Kārlis Skrastiņš (* 9. Juli 1974 in Riga, Lettische SSR; † 7. September 2011 in Tunoschna bei Jaroslawl, Russland) war ein lettischer Eishockeyspieler, der während seiner Karriere unter anderem für die Nashville Predators, Colorado Avalanche, Florida Panthers und Dallas Stars in der National Hockey League auf der Position des Verteidigers spielte.
Skrastiņš begann seine Spielerkarriere im Nachwuchs von Dinamo Riga und spielte in der Spielzeit 1991/92 das erste Mal für die erste Mannschaft des inzwischen in HK Pardaugava Riga umbenannten Klubs in der lettischen Eishockeyliga. In den folgenden Jahren spielte er dann mit Pardaugava in der zweiten russischen Liga und in der internationalen russischen Meisterschaft. Im Alter von 21 Jahren entschied er sich dann für einen Wechsel zum finnischen Erstligisten TPS Turku. Dort entwickelte er sich zu einem beständigen Verteidiger, so dass er beim NHL Entry Draft 1998 von den Nashville Predators in der neunten Runde an 230. Stelle ausgewählt wurde.
Sein erstes NHL-Spiel absolvierte er am 9. Februar 1999 gegen die Detroit Red Wings, wobei ihm ein Assist gelang. Sein erstes Tor in der NHL erzielte er am 26. Dezember 1999 gegen St. Louis. Bis zur Spielzeit 2002/03 absolvierte er über 300 NHL-Spiele für Nashville, bevor er im Tausch gegen einen Drittrunden-Draftpick an Colorado abgegeben wurde.
Am 8. Februar 2007 absolvierte er sein 487. NHL-Spiel in Folge und überholte damit Tim Hortons Rekord, der 486 aufeinanderfolgende Spiele als Verteidiger bestritten hatte. Skrastiņš erhöhte den Rekord bis auf 495 Spiele, allerdings verpasste er am 25. Februar das Spiel gegen die Anaheim Ducks aufgrund einer Knieverletzung.[1] Zuvor hatte er in seiner NHL-Karriere nur ein einziges Spiel verpasst – daher stammt auch sein Spitzname Ironman.
Kurz vor Ende der Transferperiode, am 26. Februar 2008, wechselte Skrastiņš zu den Florida Panthers, die dafür Ruslan Salej an die Avalanche abgaben. Bei den Panthers verbrachte er die Spielzeit 2008/09, bevor er Anfang Juli 2009 einen Zweijahres-Vertrag bei den Dallas Stars unterschrieb. Im Mai 2011 wurde der Lette von Lokomotive Jaroslawl aus der Kontinentalen Hockey-Liga verpflichtet.
Am 7. September 2011 kam er bei einem Flugzeugabsturz bei Jaroslawl ums Leben.
International[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Kārlis Skrastiņš vertrat sein Heimatland bei insgesamt zwölf Weltmeisterschaften und drei Olympischen Winterspielen.
Mit seiner Frau Zane hatte er drei Töchter: Karolīna, Laurēna und Vivienna.[2][3]
Reguläre Saison
Play-offs
Saison
Team
Liga
Sp
T
V
Pkt
SM
Sp
T
V
Pkt
SM
1991/92
HK Pardaugava Riga
LET
16
7
6
13
10
–
–
–
–
–
1991/92
RASMS Riga
WYL
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
1992/93
HK Pardaugava Riga
LET
10
7
2
9
12
–
–
–
–
–
1992/93
HK Pardaugava Riga
RSL
40
3
5
8
16
2
0
0
0
0
1993/94
HK Pardaugava Riga
RSL
42
7
5
12
18
2
1
0
1
4
1994/95
HK Pardaugava Riga
RSL
52
4
14
18
69
–
–
–
–
–
1995/96
TPS Turku
SM-liiga
50
4
11
15
32
11
2
2
4
10
1996/97
TPS Turku
EHL
6
0
1
1
4
–
–
–
–
–
1996/97
TPS Turku
SM-liiga
50
2
8
10
20
12
0
4
4
2
1997/98
TPS Turku
EHL
6
0
1
1
6
–
–
–
–
–
1997/98
TPS Turku
SM-liiga
48
4
15
19
67
4
0
0
0
0
1998/99
Nashville Predators
NHL
2
0
1
1
0
–
–
–
–
–
1998/99
Milwaukee Admirals
IHL
75
8
36
44
47
2
0
1
1
2
1999/00
Nashville Predators
NHL
59
5
6
11
20
–
–
–
–
–
1999/00
Milwaukee Admirals
IHL
19
3
8
11
10
–
–
–
–
–
2000/01
Nashville Predators
NHL
82
1
11
12
30
–
–
–
–
–
2001/02
Nashville Predators
NHL
82
4
13
17
36
–
–
–
–
–
2002/03
Nashville Predators
NHL
82
3
10
13
44
–
–
–
–
–
2003/04
Colorado Avalanche
NHL
82
5
8
13
26
11
0
2
2
2
2004/05
HK Riga 2000
BLR
34
8
17
25
30
3
0
0
0
25
2004/05
HK Riga 2000
LET
4
0
4
4
0
9
3
10
13
33
2005/06
Colorado Avalanche
NHL
82
3
11
14
65
9
0
1
1
10
2006/07
Colorado Avalanche
NHL
68
0
11
11
30
–
–
–
–
–
2007/08
Colorado Avalanche
NHL
43
1
3
4
20
–
–
–
–
–
2007/08
Florida Panthers
NHL
17
1
0
1
12
–
–
–
–
–
2008/09
Florida Panthers
NHL
80
4
14
18
30
–
–
–
–
–
2009/10
Dallas Stars
NHL
79
2
11
13
24
–
–
–
–
–
2010/11
Dallas Stars
NHL
74
3
5
8
38
–
–
–
–
–
NHL gesamt
832
32
104
136
375
20
0
3
3
12
International[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Jahr
Team
Veranstaltung
Sp
T
V
Pkt
SM
1993
Lettland
WM
7
1
6
7
0
1994
U20 Lettland
U20-WM
4
1
5
6
33
1994
Lettland
WM
7
3
5
8
0
1995
Lettland
WM
7
1
1
2
4
1996
Lettland
WM
7
2
2
4
8
1997
Lettland
WM
8
0
3
3
4
1998
Lettland
WM
6
0
1
1
6
1999
Lettland
WM
6
1
1
2
6
2000
Lettland
WM
7
1
2
3
4
2001
Lettland
WM
6
3
0
3
0
2002
Lettland
Olympia
1
0
0
0
0
2003
Lettland
WM
6
3
3
6
27
2005
Lettland
WM
6
2
0
2
2
2006
Lettland
Olympia
5
0
1
1
0
2009
Lettland
WM
7
1
1
2
0
2010
Lettland
Olympia
4
0
0
0
0
(Legende zur Spielerstatistik: Sp oder GP = absolvierte Spiele; T oder G = erzielte Tore; V oder A = erzielte Assists; Pkt oder Pts = erzielte Scorerpunkte; SM oder PIM = erhaltene Strafminuten; +/− = Plus/Minus-Bilanz; PP = erzielte Überzahltore; SH = erzielte Unterzahltore; GW = erzielte Siegtore; 1 Play-downs/Relegation; Kursiv: Statistik nicht vollständig)
Spielmannsdichtung oder Spielmannsepik ist eine traditionelle Bezeichnung für eine kleine Gruppe mittelalterlicher Erzähldichtungen. Soweit man die Entstehung der Texte überhaupt datieren kann, stammen sie aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts.
Es handelt sich dabei um die Werke:
Die frühe Germanistik prägte die Bezeichnung Spielmannsepik, um eine Kategorie für die fünf nicht in bestehende Ordnungsprinzipien einsortierbaren Langtexte zu erhalten. Aus dem burleskeren und weniger intellektuellen Geschmack, den diese Abenteuererzählungen im Vergleich zum höfischen Roman aufweisen sollen, wurde geschlossen, dass sie von herumziehenden Spielleuten (siehe auch Fahrendes Volk, Vagantendichtung) geschaffen worden seien. Sowohl die Stoffwahl als auch die konkrete Textgestaltung lassen weder einen behaupteten Zusammenhang erkennen noch entsprechen sie den unterstellten Kriterien. Der Begriff Spielmannsepik ist daher wissenschaftlich nicht mehr haltbar und entspricht eher einer geschmacklichen Einordnung der Germanisten des 19. Jahrhunderts, die höfische Romane als Maßstab setzten.
Heute vermutet man mit mehr Recht die Dichter in einem ähnlichen schrift- und literaturkundigen Kreis wie auch die Dichter der frühhöfischen Literatur. Der anfechtbare Begriff „Spielmannsepik“ wird weiterhin verwendet, darf jedoch nicht mehr wörtlich verstanden werden.
Charakteristisch für alle diese Erzählungen ist die Vermischung heroischer, historischer und legendärer, derber und höfischer Züge. Beliebte Märchen- und Sagenmotive (Brautwerbung, Entführung, Verkleidung) sind arrangiert mit Lust am Exotischen (Orientabenteuer) und oft drastischer Komik. Dies, die Anonymität der Verfasser und die schmale schriftliche Verbreitung signalisieren, dass es sich um eher unterhaltende und wenig repräsentative Vorlesestoffe für eine weniger gebildete adlige Zuhörerschaft gehandelt hat.
Um die Gattung Spielmannsdichtung unabhängig von dem zweifelhaften Begriff des Spielmannes zu rechtfertigen, wurden verschiedene Kriterien vorgeschlagen, die die so bezeichneten Werke verbinden sollen:
Entstehungszeit gegen Ende des 12. Jahrhunderts
Unterhaltungsanspruch auf Basis historischer Begebenheiten, Personen etc.
Anonymität der Gattung, die Autoren sind in der Regel nicht bekannt
bevorzugte Motive (Fremdheit, Entführung)
Vermischung höfischer, legendärer, historischer und heroischer Elemente, zudem häufig Märchen- und Sagenmotive
Metrik und Reim werden eher frei gehandhabt, Verse unterschiedlich lang, unregelmäßiger Rhythmus
schwerfällige, gegenständliche Sprache
häufige Wiederholung einzelner Wendungen
wenige und einfache sprachlich-stilistische Mittel
Diese Kriterien sind in der Forschung stark umstritten, da sie konstruiert sind, um die fünf Epen unter einem Begriff zu fassen. Kritiker lehnen daher sowohl den Begriff Spielmannsepik als auch ein spezielles Genre für die fünf Epen ab. Sie betonen starke Unterschiede in den Werken, die sich kaum vereinheitlichen ließen. In Ermangelung einer anderen Kategorisierung spricht man für gewöhnlich von den „sogenannten Spielmannsepen“ oder benutzt Anführungszeichen, um eine Distanz zu dem Begriff auszudrücken.
Michael Curschmann: Spielmannsepik – Wege und Ergebnisse der Forschung 1907–1965. Stuttgart 1968.
Gretel und Wolfgang Hecht: Deutsche Spielmannsdichtung des Mittelalters. Leipzig 1977 (2. Auflage unter dem Titel Deutsche Spielmannserzählungen des Mittelalters. Ebenda 1982).
Walter Johannes Schröder: Spielmannsepik. Stuttgart 1967.
Theodor Seidenfaden (* 14. Januar 1886 in Köln; † 6. August 1979 in Hattingen, Ruhr) war ein deutscher Schriftsteller.
Theodor Seidenfaden war der Sohn eines Landwirts. Er wuchs in Köln auf. Nach dem Besuch der Volksschule absolvierte er eine Ausbildung am Lehrerseminar in Brühl und wirkte anschließend von 1906 bis 1908 als Volksschullehrer in Rövenich. Von 1909 bis 1910 studierte er Musik und Literatur in Köln und Bonn; ab 1912 war er an der Volksschule in Bessenich als Lehrer tätig. Von 1915 bis 1918 nahm er als Soldat am Ersten Weltkrieg teil und wurde schwer verwundet. Von 1924 bis 1931 war er Rektor einer Volksschule in Königshoven, von 1931 bis 1934 Volksschulrektor in Köln-Riehl und von 1934 bis 1949 Stadtschulrat in Köln. Seidenfaden gehörte von 1931 bis 1932 der NSDAP an, setzte aber auch nach seinem Austritt aus der Partei seine Mitarbeit an nationalsozialistischen Kulturzeitschriften fort. Ab 1951 war er Mitglied des rechtsextremen Deutschen Kulturwerks Europäischen Geistes, von 1953 bis 1969 als Präsidiumsmitglied.
Theodor Seidenfadens umfangreiches literarisches Werk besteht aus Romanen, Erzählungen, Nacherzählungen deutscher Sagen, Gedichten und fiktiven Dialogen zwischen historischen Persönlichkeiten. Sein Werk ist geprägt von des Autors Ablehnung der Moderne und seiner ultrakonservativ-christlichen Geisteshaltung.
Ludwig Uhland, M.Gladbach 1919
Sofia, Zülpich 1919
Zum neuen Tag, Warendorf i. Westf. 1919
Justinus Kerner, M.Gladbach 1920
Eduard Mörike, M.Gladbach 1921
Die Teufelsschlucht, Saarlouis 1921
Im Wunderkahn, Saarlouis 1922
Zu himmlischen Ufern, Saarlouis 1923
Das Haupt des Laurentius, Frankfurt a. M. 1924
Das rheinische Narrenschiff, Leipzig [u. a.] 1924
Das Spiel von Sankt Christophorus, Frankfurt a. M. 1924
Das Glockenspiel, Saarlouis 1925
Meier Helmbrecht, Saarlouis 1925
Rheinische Sagen und Schwänke, Saarlouis 1925
Beowulf, Saarlouis 1926
Sagen um Karl den Großen, Saarlouis 1926
Gudrun, Saarlouis 1927
Dietrich von Bern, König der Goten, München 1928
Der heilige Strom, München 1930
Das Heldenbuch, Freiburg i. Br. 1930
Der Zweikampf zu Worms, Köln a. Rh. 1930
Das deutsche Schicksalsbuch, Freiburg
Der Kampf um die Finnsburg, Kevelaer 1932
Das Heiligtum, München 1933
Der verwegene Sprung, Langensalza [u. a.] 1933
Die Weihe, München 1933
Nordlandhelden, München 1934 (zusammen mit Gustav Schalk)
Der goldene Ring, Halle 1935
Der Ring zerbricht, Halle 1935
Der Bürger von Gent, Saarlautern 1937
Der Königssohn unter Wölfen, Bochum 1938
Michel unter den Räubern, Saarlautern 1938
Walter und Hildegund, Saarlautern 1938
König Rother, Saarlautern 1939
Hans Memlings letzter Tag, Ratingen 1940
Der Karneval des Jahres 1812, Frankfurt a. M. 1940
Edle und Bauern, Reutlingen 1941
Die Schuhe der Frau Holle, Saarlautern 1941
Wieland, Saarlautern 1941
Der Meister von Brügge, Hamburg 1942
Schelme vom Rhein, Ratingen 1942
Mozart und Beethoven sprechen, Düsseldorf 1952
Johann Peter Hebel, Murnau 1953
Land der Braunkohle, Murnau 1953
Die Tafelrunde im Altking, Wiesbaden
1. Hessen-Nassauische Geschichten vom Glauben, der Hoffnung und der Liebe, der Treue, der Ehre, 1954
2. Hessen-Nassauische Geschichten von der List gegen die finsteren Gewalten, dem Frohsinn und der Tapferkeit, 1954
3. Hessen-Nassauische Geschichten der Gerechtigkeit, der Kühnheit, des Fromm-Seins und der Güte, 1954
Göttliche Erde, Dinkelsbühl/Mittelfranken 1955
Der junge Schulmeister und das Mädchen Regine, München 1956
Traumnacht auf der Toteninsel, Göttingen 1956
Die Nacht des Gewissens, Karlsruhe 1959
Der Pianist, Karlsruhe 1960
Die Sterbenacht des Inquisitors, Karlsruhe 1960
Die Jungfernbeichte, München 1961
Magister Markus, der Astrolog, Karlsruhe 1961
Wunder im Maß, Dülmen/Westf. 1962
Das ewige Korn, Dülmen/Westf. 1963
Die Flucht, Karlsruhe 1963
Der Traum des Intendanten, Karlsruhe 1964
Zwiegespräch mit dem Krist, Karlsruhe 1964
Europa, Wien 1965
Die Lüneburger Walpurgisnacht 1965, Karlsruhe 1965
Der zweiundneunzigste Geburtstag, Karlsruhe 1965
Terzett, Westerbrak b. Vorwohle 1966
Elueisa, München 1967
Die andere Welt, Karlsruhe 1968
Leuchtturm-Flammen, München 1968
Meine Ketzer, Wien 1968
Die Seele des Himmels, Karlsruhe 1968
Zum ewigen Frieden, Karlsruhe 1968
Das Bild der Könige, Karlsruhe 1969
Die Nacht der Erscheinungen, Karlsruhe 1971
Weltwende, Karlsruhe 1971
Die Gengenbacher Novembernacht, Karlsruhe 1972
Meine kleine Shakespeare-Galerie, München 1972
Das Quartett, Karlsruhe 1972
Till Eulenspiegel im Ahrtal, Heusenstamm 1972
Ich und All, Karlsruhe 1973
Die Kerker-Gebete, Karlsruhe 1973
Stundenschläge einer goldenen Kunde, Karlsruhe 1973
Von den Schätzen der Werte, Karlsruhe 1973
Der Aufstieg auf den Heiligen Berg, Karlsruhe 1974
Der großen Drei Abschied von der römischen Kirche, Karlsruhe 1975
Die Wunderburgen Gottes, Karlsruhe 1975
Nur das Geheimnis Ehrfurcht kittet, Dülmen 1977
Das Unvergängliche, Karlsruhe 1977
Der Zauberspiegel, Bad Orb im Spessart 1999
Wilhelm Herchenbach: Abelung, der Zwergenkönig, Regensburg 1920
Junges Auge über dem Rhein, Ratingen 1940
Kultur des deutschen Ostens, Troisdorf/Rhld. 1950 (herausgegeben zusammen mit Carl Thomas)
Heinz R. Grienitz: Medium, Karlsruhe 1960
Der Brückenschlag, Bonn 1972
Walther Ottendorff-Simrock (Hrsg.): Vom freien Geist, Bad Kissingen 1971
Beispiel eines Berolinismus: Bärenlina für die ehemalige Berolina
Als Berolinismus (von lateinischBerolinum)[1] oder Berlinismus wird ein aus der Berliner Umgangssprache bzw. dem Berliner Volksmund stammender Begriff oder Ausdruck bezeichnet. Dazu gehören unter anderem Spitznamen für bestimmte Straßen, Plätze und Gebäude sowie Bezeichnungen für ortstypische Gewohnheiten. In einigen Fällen wurden Berolinismen als offizielle Namen übernommen.
Viele Berliner Spitznamen sind weit über die Grenzen Berlins bekannt, und der Berliner Volksmund ist mit diesen Spitznamen durchsetzt, wobei es bei einer Reihe von Begriffen für Gebäude Diskussionen darüber gibt, ob sie tatsächlich zur Berliner Umgangssprache gehören oder doch eher von verschiedenen Touristenführern dem Berliner Volksmund „untergeschoben“ werden.
Wie bei allen Spitznamen (im 17. Jahrhundert spitz: ‚verletzend‘) handelt es sich meist um Spottnamen, die einen kurzen Ersatznamen für den realen Namen geben, der sich aus den Charakteristika der Sache oder der Person ergeben. Die Alltagssprache des Berlinischen soll eine vergleichsweise ruppige Art besitzen und gehe ziemlich frei mit Spottnamen um. Dies wird auch von Touristenführern und Reiseliteratur gern kolportiert; tatsächlich ist das aber wohl eine Legende. Im Alltag werden der Fernsehturm („Telespargel“) und der Funkturm („Langer Lulatsch“) gerade so, nämlich in der offiziellen Form genannt. Die alternativen Namen werden zumeist ironisch gebraucht, um journalistische Volksnähe zu zeigen oder um Touristen mit dem „Witz“ der Berliner zu beeindrucken. Ein Gegenbeispiel ist der Bierpinsel, der eher selten mit der öffentlichen Bezeichnung „Turmrestaurant Steglitz“ oder „Turmrestaurant an der Schloßstraße“ benannt wird.
Viele spitze Bezeichnungen sind stark zeitbezogen. Da jedoch echte und angebliche Spitznamen vor allem von den Medien zur Herstellung eines Berliner Lokalkolorits verbreitet werden, kann zumindest zeitweise so manche sehr eigenartige Bezeichnung auch ohne weiteren Satzbezug von den Berlinern verstanden werden. Die funktionellen Namen überwiegen jedoch im allgemeinen Sprachgebrauch.
Bauwerke, Denkmäler und Kunstwerke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Akademiebusen oder Adlershofer Busen – die Isothermischen Kugellabore in Berlin-Adlershof
Bärenlina[2] – die ehemalige Statue der Berolina von Emil Hundrieser auf dem Alexanderplatz (1942 von den Nationalsozialisten eingeschmolzen)
Behinderter Fortschritt und Beförderter Rückschritt[3] – aus der Zeit des Vormärz stammender Spitzname für die Rossebändiger von Peter Clodt von Jürgensburg vor dem Berliner Schloss (1945 vor das Kammergericht versetzt)
Bienenhaus – das Junggesellenhaus in der Klopstockstraße 2 im Hansaviertel, erbaut für die Interbau 1957
Bierpinsel[4] – der Ausdruck wurde später zum offiziellen Namen für das Turmrestaurant an der Schloßstraße (Berlin-Steglitz).
Bikini-Haus[5] – Gebäude am Bahnhof Zoo: „Oben was, unten was, in der Mitte nichts“.[6]
Bonnies Ranch[7] – Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Wittenau.
Bulle[8] – Industriebahn Oberschöneweide
Café Achteck[5] – die einst für Berlin typischen achteckigen Pissoirs aus der Gründerzeit.
Café Schönstedt[9] – das Amtsgericht Neukölln in der Schönstedtstraße, der Seitenflügel diente jahrzehntelang als Jugendgefängnis.
East Side Gallery[5] – der Name wurde zur offiziellen Bezeichnung des bebilderten Reststücks der Hinterlandmauer entlang der Mühlenstraße zwischen Ostbahnhof und Warschauer Straße.
Einheitswippe – Spottname für das Freiheits- und Einheitsdenkmal in Form einer begehbaren Schaukelfläche an der Schloßfreiheit.[10]
Erichs Lampenladen[11][12] – Spottname für den Palast der Republik in Anspielung auf Erich Honecker und die Foyer-Beleuchtung mit zahlreichen Kugelleuchten.
For(c)kenbecken – der Neptunbrunnen von Reinhold Begas (bis 1951 auf dem Schloßplatz, seit 1969 im Park am Fernsehturm). Doppelte Anspielung auf Oberbürgermeister Max von Forckenbeck, in dessen Amtszeit der Brunnen 1891 enthüllt wurde, und die Forke des Neptun.[13]
Goldelse[5] – die vergoldete Viktoria von Friedrich Drake auf der Spitze der Siegessäule.[6]
Gürteltier[14] – das Ludwig-Erhard-Haus, Sitz der IHK Berlin.
Hohler Zahn[15] – verbreiteter Name für Turmruinen, hier der Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Breitscheidplatz.[6]
Hungerharke[5] oder Hungerkralle – das Luftbrückendenkmal auf dem Platz der Luftbrücke vor dem ehemaligen Flughafen Tempelhof.[6]
Kanzler-U-Bahn[16] – U-Bahn-Linie 55, die unter dem Regierungsviertel zwischen Brandenburger Tor und Hauptbahnhof verläuft, ebenso die im Dezember 2020 eröffnete Verlängerung der Linie U5 zum Alexanderplatz.
Kohlroulade – 1994 vom Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude durchgeführte Verhüllung des Reichstags, Anspielung auf Bundeskanzler Helmut Kohl
Kommode[17] – die im Barockstil mit geschwungener Fassade gestaltete frühere Königliche Bibliothek am Bebelplatz – heute Sitz der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität.
Kubi[18] – die Kunstbibliothek am Kulturforum
Raumschiff Enterprise oder Panzerkreuzer Protzki – das Internationale Congress Centrum (ICC).
Langer Jammer, für die Fußgängerbrücke Storkower Straße
Langer Lulatsch[19] – ist der in den 1920er Jahren gebaute Berliner Funkturm auf dem Messegelände, der an einen langen schlaksigen Kerl erinnert.[6]
Lippenstift und Puderdose[5] – Glockenturm und Kirchengebäude der neuen Gedächtniskirche auf dem Breitscheidplatz.[6]
Magistratsbusen – Erker des ehemaligen Cafés „Schwalbennest“ am Marx-Engels-Forum
Magistratsschirm – die Hochbahnabschnitte der U-Bahn Linie 2 im Bereich der Schönhauser Allee (Prenzlauer Berg), unter denen man bei Regen (quasi mit dem Regenschutz des Magistrats) promenieren kann. Die Hochbahnabschnitte in anderen Ortsteilen tragen diese Bezeichnung nicht.
Mäusebunker – die Forschungseinrichtung für experimentelle Medizin der Charité in Lichterfelde.
Mäusetunnel – der Verbindungstunnel für Fußgänger zwischen den Bahnsteigen der U-Bahn-Linien U2 und U6 des Bahnhofs Stadtmitte.[20]
Melitta-Kirche – drei baugleiche katholische Kirchen aus der Mitte der 1970er Jahre mit Melitta-Kaffeefilter-ähnlichem Dach (Sankt Dominicus in Britz, Zu den heiligen Märtyrern von Afrika in Lichtenrade und Sankt Markus in Spandau).[21][22][23][24]
Millionenbrücke[25] – Bezeichnung für die 1905 fertiggestellte Swinemünder Brücke, deren Bau rund eine Million Mark kostete.[6]
Mont Klamott(e)[26] – der Große Bunkerberg im Volkspark Friedrichshain, der aus den „Kriegsklamotten“ um den gesprengten Flakbunker herum aufgeschichtet wurde. Der Spitzname wird auch für den Trümmerberg Insulaner in Schöneberg benutzt.[6]
Nuttenbrosche[27] – der Brunnen der Völkerfreundschaft auf dem Alexanderplatz.
Oberkieker[28] – der Verkehrsturm am Potsdamer Platz.
Palazzo Prozzo[11] – der ehemalige Palast der Republik.
Pallasseum, auch Sozialpalast – markanter Wohnblock an der Pallasstraße in Schöneberg am Ort des früheren Berliner Sportpalastes, ursprünglicher Name: Wohnen am Kleistpark, seit 2001 offiziell Pallasseum
Palme – Städtisches Obdach in Prenzlauer Berg
Pimmel über Berlin – Skulptur Friede sei mit Dir (2009) von Peter Lenk am ehemaligen taz-Gebäude in der Rudi-Dutschke-Straße, angelehnt an den Film Der Himmel über Berlin
Rauchhaus – Georg-von-Rauch-Haus
Retourkutsche – Quadriga von Johann Gottfried Schadow auf dem Brandenburger Tor. 1806 von Napoleon als Kriegsbeute nach Paris gebracht, 1814 von Blücher in den Befreiungskriegen wieder zurückgeholt.
Rosinenbomber – Bezeichnung für die Flugzeuge der Berliner Luftbrücke.
Rostkreuz – der ehemals marode S-Bahnhof Ostkreuz (Sanierung seit 2007).
Rost- und Silberlaube – zwei Gebäudeteile des Hauptgebäudes der Freien Universität: Gebäudekomplex Rost- und Silberlaube sowie die Philologische Bibliothek der Freien Universität Berlin, mittlerweile als offizielle Bezeichnung durch die Universität übernommen. Ein Erweiterungsbau wurde passend dazu Holzlaube genannt.
Roter Kasten – die als Ursprungsbau der Architekturmoderne geltende Bauakademie von Karl Friedrich Schinkel am Schinkelplatz.[29]
Rotes Kloster – Haus am Köllnischen Park, ehemaliger Sitz der SED-Parteihochschule „Karl Marx“[30]
Rotes Rathaus – inzwischen halbamtliche Bezeichnung für das Berliner Rathaus, in Anspielung auf die rote Ziegelfassade.
Russen Ei – Hippodromfläche der ehemaligen Kaserne der sowjetischen Berlinbrigade im Volkspark Wuhlheide, die heute als Skate- und Fahrradbahn genutzt wird.[31]
Sacco und Jacketti – Marx-Engels-Denkmal in Mitte, in Anlehnung an Sacco und Vanzetti.
Schlange – die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße.
Schwangere Auster[5] – die Kongresshalle im Tiergarten, die vom Haus der Kulturen der Welt genutzt wird.[6]
Schwindsuchtbrücke – stillgelegte Eisenbahnbrücke über der Gartenstraße in Mitte, meist Luisenbrücke genannt
Sechserbrücke – die Tegeler Hafenbrücke, für deren Benutzung früher fünf Pfennige bezahlt werden mussten. Für das Fünf-Pfennig-Stück war die Bezeichnung „Sechser“ üblich.
Seelenbohrer – Turm der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche im Hansaviertel, wegen der Form des Treppenhauses.[6]
Spinnerbrücke – der Motorradtreffpunkt an der AVUS-Anschlussstelle 3 – Spanische Allee in Nikolassee.
Stabi – gilt für die beiden Gebäude der Deutschen Staatsbibliothek, sowohl an der Straße Unter den Linden (Haus 1, Stabi Ost) als auch in der Potsdamer Straße (Haus 2, Stabi West).
Stahnsdorf[32] – das bis 1987 rekonstruierte Nikolaiviertel in Mitte, doppelte Anspielung auf seinen Architekten Günter Stahn und die gleichnamige Gemeinde Stahnsdorf vor den Toren Berlins.
Späti oder Spätkauf bezeichnet die in Berlin typischen, häufig rund um die Uhr geöffneten Spätkauf-Kioske. Dazu Ladenöffnungszeit#Berlin.
Suppenschüssel – die Granitschale von Christian Gottlieb Cantian im Lustgarten.
Telespargel[5] – der Berliner Fernsehturm zwischen Marx-Engels-Forum und Alexanderplatz. Der Spitzname wurde von offizieller Seite der DDR eingeführt, hat sich im Volksmund jedoch nicht durchgesetzt.[33]
Tränenpalast[5] – das Abfertigungsgebäude des ehemaligen Grenzübergangs Friedrichstraße.
Waschmaschine[5] oder Elefantenklo – das Kanzleramt in Anspielung auf die kubische Gebäudeform mit den großen Lichtöffnungen und Fensterfronten.
Wasserklops[5] – geläufiger Name des Weltkugelbrunnens am Breitscheidplatz.
Wiesenburg – Berliner Asylverein für Obdachlose in der Wiesenstraße in Wedding
Zirkus Karajani – frühere Bezeichnung für die Berliner Philharmonie am Tiergarten nach Herbert von Karajan, dem ehemaligen Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker.[6]
Straßen, Plätze und Gegenden[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Eine besondere Bedeutung als Ortsbezeichnung für die Randgebiete und das Umland Berlins hat jwd. Eine Abkürzung aus janz weit draußen mit der Bedeutung: Ganz weit draußen. Mit dem Wachsen der Großstadt rückten die Ortslagen des „jwd“ zunehmend in die „Provinz“.
Viele Gegenden und bestimmte Stadtgebiete oder wichtige Straßenkreuzungen werden nach dortigen oder ehemals bestehenden Kneipen oder Ausflugsgaststätten bezeichnet. Auch wenn diese Restaurationen nicht mehr existieren, überlebten deren Namen als Ortsmarkierung.[34] Es werden zum Teil auch berlininterne oder sogar offizielle Bezeichnungen daraus, beispielsweise
Bequeme noch erkennbare Kürzungen für Straßen, Plätze und Gegenden wurden bereits vor 1900 gebräuchlich. Die Bezeichnung Damm erhielt sich für jede Art einer befestigten Straße und geht auf die Befestigung von Straßen mit Knüppeldämmen zurück, die im stadtnamensstiftenden Sumpfland vor der Straßenpflasterung mit Steinen üblich war. Sie waren zumeist den Herrschaften wie zum Beispiel Kurfürsten und Kaisern vorbehalten, wovon der Kurfürstendamm und der Kaiserdamm bis heute künden.
„Komm’ vom Damm runta, Frollein!“
Der Alex ist schon lange auch überregional bekannt. Das Wort für den zentralen Platz der Hauptstadt wird deutschlandweit genutzt.[36] Gleiches gilt für den Ku’damm.[37] Andere Bezeichnungen werden nur von und für Bewohner des Kiez und seiner Umgegend verständlich gebraucht. Von Journalisten werden solche Ausdrücke gefördert und der Bekanntheitsgrad erweitert. Die folgenden Beispiele sollen nur den Wortsinn und die Bildungsart belegen, es ist keinesfalls eine abgeschlossene Liste.
Kotti – Kottbusser Tor, „Die Rede ist vom Kottbusser Tor in Berlin, von Bewohnern gerne auch liebevoll „Kotti“ genannt.“[43]
Kreuzkölln – Reuterkiez in Neukölln-Nord, aufgrund räumlicher und kultureller Nähe zu Kreuzberg.[44] Der Begriff ist ein Kofferwort und aus der Lage zwischen Kreuzberg und Neukölln bedingt.
Ku’damm – Kurfürstendamm
Kutschi – Kurt-Schumacher-Platz[45]
Leo – Leopoldplatz: „Die Sondergenehmigung für den Betrieb des seit 2011 bestehenden Treffpunkts auf dem „Leo“ sollte Ende 2015 auslaufen.“[46]
LSD-Viertel – Szeneviertel mit vielen Kneipen rund um die Lychener, Schliemann- und Dunckerstraße in Prenzlauer Berg. „LSD Viertel hört sich zwar reißerisch an, ist es aber nicht und vom Namen her will es so gar nicht in das heutige doch sehr biedere Prenzlauer Berg rund um den Helmholtzplatz passen.“[47]
Nolle oder Nolli – Nollendorfplatz: „Der Nollendorfplatz, im Volksmund „Nolle“ genannt, stellt den Mittelpunkt des Regenbogenkiezes dar. Seine Nachbarschaft ist kulturell aufgeschlossen und liberal.“[48]
O-Platz für den Oranienplatz
O-Straße – für die Oranienstraße in Kreuzberg[49]
Plumpe – Synonym für das ehemalige Stadion am Gesundbrunnen und mittlerweile weniger verbreiteter Name für den Ortsteil Gesundbrunnen.[50]
Plötze – die Strafanstalten im Ortsteil Plötzensee, teilweise ergänzend der Plötzensee[51]
Potse – Potsdamer Straße[52]
Prenzlberg – insbesondere bei Nicht- und Neueinwohnern geläufige Kurzform des Ortsteils Prenzlauer Berg, von der Kurzform „Prenzl. Berg“[53]
Puppenallee – die ehemalige Bezeichnung für die Siegesallee im Großen Tiergarten, wegen der hier stehenden Statuen brandenburgisch-preußischer Herrscher und deren berühmter Zeitgenossen.
Schweineöde – Schöneweide, Oberschweineöde – Oberschöneweide, Niederschweineöde – Niederschöneweide, Wortspiel durch das Vertauschen von „wei“ und „ö“[54][55]
Stutti – Stuttgarter Platz[56]
Te-Damm – Tempelhofer Damm[57]
Theo – Theodor-Heuss-Platz[58]
Geld[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Heiamann für ein 5 DM Stück oder Schein[59]
Pfund oder Zwanni für 20 DM[60]
Sechser[61] für das 5-Pfennig-Stück, heute auch für das 5-Cent-Stück
Im Gegensatz zu den beschriebenen Spitznamen verbirgt sich hinter dieser Bezeichnung eine Literaturkategorie. Berolinica sind Bücher oder Schriften, die sich mit berlintypischen Sachverhalten oder der Berliner Geschichte befassen. Diese Kategorisierung findet sich in Antiquariaten oder im gutsortierten Buchfachhandel.
↑Karl Ernst Georges: Kleines deutsch-lateinisches Handwörterbuch.Stichwort Berlin
Rhynchophorus ferrugineus (auch Roter Palmrüssler[1]) ist ein Käfer aus der Familie der Rüsselkäfer, Unterfamilie Dryophthorinae. Ursprünglich aus Asien stammend, verbreitete er sich in nur wenigen Jahren fast weltweit, unter anderem auch im Mittelmeerraum, und bedroht hier sämtliche Bestände von Palmen. Seine Larve ist bekannt als Sagowurm und wird lokal als Lebensmittel und damit wichtiger Eiweißlieferant genutzt.
Rhynchophorus ferrugineus ist ein ca. 3,0 bis 3,5 Zentimeter langer Rüsselkäfer. Die Oberseite des Körpers einschließlich des Pronotums und der Flügeldecken ist typischerweise überwiegend bräunlichrot gefärbt. Der größte Teil der Unterseite und die Beine sowie die Antennen sind schwarz, die Fühlerkeule aber wiederum rötlich. Auch der fast gerade, zylindrische Rüssel ist rötlich gefärbt. Die Antennen sind an den Seiten des Rüssels, nahe bei dessen Basis, eingelenkt. Sie sind gekniet mit stark verlängertem Basisglied (Scapus). Auf dem Halsschild sitzen schwarze Punkte und Flecken unterschiedlicher Ausdehnung. Die Flügeldecken tragen deutliche, tief eingedrückte Punktstreifen, sie sind am Körperende verkürzt und lassen das letzte Hinterleibssegment (Pygidium) unbedeckt. Die häutigen Hinterflügel sind normal ausgebildet, die Käfer sind flugfähig und recht gute Flieger. Der Halsschild ist zylindrisch und auffallend langgestreckt.
Die Art ist bekannt für ihre extrem variable Färbung und weist ausgeprägte Farbmorphen auf, die früher teilweise als eigene Arten angesehen worden waren. So gibt es Populationen, deren Tiere überwiegend schwarz gefärbt sind und die nur einen auffallenden, leuchtend roten Längsstreifen auf dem Halsschild tragen.
Die Larven, die Sagowürmer genannt werden, haben einen cremefarbenen, prallen Körper mit feingezahnten Querrillen und einen kleinen, hartschaligen und kastanienbraunen Kopf. Bei näherer Betrachtung sind am Körper feine Härchen zu erkennen.
Der Käfer kommt ursprünglich aus Südostasien, wo er vor allem in Süßwassersümpfen lebt. Von dort verbreitete er sich durch den Mittleren Osten bis nach Marokko. Durch den Import von Palmen wurde er nach Spanien, Italien, Griechenland, Frankreich und in nahezu alle Mittelmeerländer[2] sowie Portugal[3] eingeschleppt. Auch auf den Mittelmeerinseln Mallorca und Ibiza wurde er nachgewiesen. Dort hat er inzwischen Schäden in Millionenhöhe verursacht.[4] In Mallorca wurden bis März 2013 an die 3000 geschädigte Palmen gezählt.[5]
Im März 2015 berichtet die Mallorca Zeitung, dass der Schädling inzwischen in allen Gemeinden der Insel nachgewiesen wurde und seit 2006 bereits fast 10.000 Palmen befallen hat.[6]
Laut Angaben des Landes-Umweltamtes von Mallorca sind mit Stand 5. November 2016 vier Prozent der Palmen auf Mallorca von dem Schädling befallen. Das entspricht rund 11.700 Palmen. Als der Palmrüssler 2006 auf den Balearen entdeckt wurde, waren nur die Kanarische Dattelpalme und die echte Dattelpalme befallen.
Inzwischen werden auch Fächerpalmen, die Zwergpalme und sogar schon Palmlilien von dem Käfer befallen.[7]
Obwohl die Art aus den tropischen Breiten stammt, überlebt sie die Winter in gemäßigteren Breiten problemlos und kann daher überall vorkommen, wo Palmen wachsen. Die Neuinfektion erfolgt durch fliegende Käfer. Durch den Versand infizierter Palmen aus Baumschulen verbreiteten sie sich über Länder und Kontinente hinweg.
Die Jugendstadien des Palmrüsslers sind an Palmen gebunden. Das Weibchen legt bis zu 300 Eier einzeln oder in kleinen Gelegen in Spalten oder selbst ausgefressenen Hohlräumen in der Palme ab.[8] Nach 2 bis 5 Tagen schlüpfen die Larven. Sie fressen sich durch das Gewebe bis in die Wachstumszone an der Stammspitze im Bereich des Blattansatzes. Andere Teile der Pflanze, z. B. Blätter, faserige oder verholzte Stammabschnitte, werden nicht dauerhaft befallen. Das Larvenstadium dauert ein bis drei Monate, die Larve häutet sich dabei sieben- bis zwölfmal. Anschließend verpuppt sie sich in einer langgestreckten, ovalen und aus Pflanzenfasern bestehenden Puppenkammer. Nach 14 bis 21 Tagen Puppenruhe schlüpfen die adulten Käfer (Imagines). Sie sind beinahe ganzjährig anzutreffen, in den gemäßigten Breiten bleiben sie allerdings oft bis zum Frühjahr in der Puppenkammer.
Der Befall ist in den frühen Stadien äußerlich nicht erkennbar. Sobald Symptome zu sehen sind, ist der Baum in der Regel bereits rettungslos verloren. Zum Ende eines Befalls sterben die Blattwedel ab, der vollkommen aufgebrauchte und zerstörte Wachstumskegel kann keine neuen Blätter mehr ausbilden.[9]
Eine Vielzahl verschiedener Palmenarten werden befallen, darunter auch die ökonomisch bedeutenden Kokospalmen, Sagopalmen, Echte Dattelpalmen und Silber-Dattelpalmen. Im Mittelmeerraum wird vor allem die als Zierbaum häufig angepflanzte Kanarische Dattelpalme befallen.
Erstes offensichtliches Schadenbild an einer Kanarischen Dattelpalme
Mit dem Ende des Befalls ist die Krone der Palme vollkommen zerstört
Die an der Basis ausgefressenen Palmwedel fallen aus der Krone
In den Fraßgängen an der Basis der herabgefallenen Palmwedel finden sich Puppenwiegen aus Palmfasern
Puppenwiegen des Roten Palmrüsslers
Geöffnete Puppenwiegen mit aus den Puppen gehäuteten erwachsenen Käfern
Prävention und Behandlung
Kanarische Dattelpalme nach dem Befall des Roten Palmrüssler vollständig zerstört (Budva, Mai 2016)
Fallen zum Anziehen und Zerstören von Roten Palmrüsslern (Budva, Mai 2017)
Das Entfernen von Blattresten und das Abschälen des Stamms soll den Käfern weniger Angriffsziele bieten (Budva, Mai 2017)
Behandelte Palme, die sich erholt, nachdem sie vom Rüsselkäfer der Roten Palmrüssler angegriffen wurde
Curculio ferrugineus Olivier, 1790[10]
Calandra ferruginea Fabricius, 1801
Rhynchophorus signaticollis Chevrolat, 1882
In deutschen Medien finden sich für Rhynchophorus ferrugineus auch die Namen Roter Palmen-Rüsselkäfer, Roter Palmrüssler, Indomalaiischer Palmen-Rüssler, Malaiische Palmenrüssler oder Palmrüssler. Nicht immer handelt es sich dabei um gebräuchliche Namen, so dass hier durchaus Verwechslungsgefahr besteht.
Gesammelte Sagowürmer in Papua-Neuguinea
Der Sagowurm wird von indigenen Völkern, wie den Korowai auf Papua-Neuguinea oder den Kadazan und Melanau auf Borneo, als Speiseinsekt genutzt. Diese ernähren sich zu einem guten Teil von Sagopalmenmehl, das sie zu einer Art Fladenbrot verarbeiten. Das Mehl der Sagopalme ist wegen seines hohen Anteils an Stärke sehr energiereich, allerdings enthält es kaum Eiweiß. Deshalb stellen die Sagowürmer für diese Menschen eine wichtige zusätzliche Eiweißquelle dar.
In Südostasien gelten Sagowürmer als Delikatesse. Sie werden roh, geräuchert, geröstet oder in zusammengebundenen Bananenblättern gedämpft verspeist. Vor allem in Malaysia werden Sagowürmer auch in Restaurants zubereitet. Das bekannteste Insektengericht aus Sagowürmern nennt sich Sago Delight oder auch Kadazan. In Vietnam werden die Larven zum Teil lebendig mit Fischsauce verspeist.[11]
↑Fukibo Abe, Kunihiko Hata, Koichi Sone (2009): Life history of the Red Palm Weevil, Rhynchophorus ferrugineus (Coleoptera, Dryophtoridae) in Japan. Florida Entomologist 92(3): 421-425.
Die Iriomote-Katze ist eine wilde Katze, die auf der japanischen Insel Iriomote, der südlichsten der Ryūkyū-Inseln, heimisch ist. Im regionalen Dialekt wird sie Yamamayā („Bergkatze, Wildkatze“), Yamapikaryā („Funkelndes Etwas der Berge“) oder Pingīmayā („geflohene Katze“) genannt.[1] Nach einer wechselvollen taxonomischen Geschichte wird die Iriomote-Katze heute nur noch als Inselpopulation der Bengalkatze (Prionailurus bengalensis) angesehen.[2]
Iriomote-Katzen haben dunkelbraunes langhaariges Fell mit horizontalen Streifen von dunkleren undeutlichen Flecken. Sie haben einen relativ lang gestreckten Körper mit kurzen Gliedmaßen und kurzem Schwanz von etwa 19 cm.[1] Männchen wiegen im Durchschnitt 4,2±0,5 kg, und Katzen 3,2±0,3 kg.[3]
Von der Größe her sind sie mit Hauskatzen vergleichbar: die Kopf-Rumpf-Länge beträgt rund 60 cm. Die Ohren sind klein und abgerundet mit einem weißen Fleck auf der Rückseite.
Iriomote-Katzen kommen nur auf der Insel Iriomote vor, die am südlichen Ende der Ryūkyū-Inselkette liegt, einer Inselgruppe, die sich von Kyūshū bis nach Taiwan erstreckt. Iriomote besteht hauptsächlich aus 300–400 m hohen Hügeln, die mit sub-tropischem immergrünem Laubwald bedeckt sind, und ausgedehnten Gürteln von Mangroven entlang der Wasserstraßen. Iriomote-Katzen leben vorwiegend in den Küstengebieten in der Nähe von Siedlungen, aber weniger in den geschützten Bergwäldern im Inneren der Insel.[3] Die Mangrovenwälder und bewaldeten Sumpfgebiete in den Küstengebieten weisen eine größere Artenvielfalt auf und scheinen wegen ihres größeren Beutespektrums geeignetere Habitate darzustellen als die höher gelegenen Areale im Innern der Insel.[4]
Iriomote-Katzen sind Einzelgänger und generell in der Dämmerung und in den frühen Nachtstunden aktiv, wenn auch ihre Beutetiere aktiv werden. Kater sind vorwiegend in der Morgendämmerung und nach Sonnenuntergang aktiv. Katzen sind außerdem um Mitternacht und auch dann um die Mittagszeit aktiv, wenn sie Junge haben.[5] Sie ruhen in Baumhöhlen, Ästen oder Felsspalten.
In den nördlichen Waldbeständen der Insel haben Kuder größere Reviere als Katzen, die Reviere von mehreren Katzen einschließen. In diesen geeigneten Habitaten sind Reviere von Kudern etwa 3 km² groß, die der Katzen im Durchschnitt 1,75 km².[6] Nach Untersuchungen, die in einem weniger bewaldeten Standort an der Westküste durchgeführt wurden, war das Revier des Kuders nur zwischen 0,83 km² und 1,65 km² groß, das der residenten Katze dagegen etwas größer, nämlich zwischen 0,76 km² und 1,84 km² groß. Die Reviere beider Individuen üpperlappten sich zum großen Teil.[7]
Ernährung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Iriomote-Katzen ernähren sich von Insekten, Reptilien, Amphibien, in Wassernähe lebenden Vögeln und kleinen Säugetieren.[4] Ende der 1980er Jahre untersuchten Biologen das Nahrungsverhalten von Iriomote-Katzen anhand von Kotproben, die sie monatlich sammelten. Sie fanden heraus, dass Iriomote-Katzen mehr Echsen und Frösche fressen als Säugetiere und Vögel, und sich vorwiegend von Skinken ernähren.[8]
Fortpflanzung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Iriomote-Katzen paaren sich vorwiegend zwischen Februar und März. Nach einer Tragzeit von etwa 60 Tagen bringen Katzen zwischen April und Juni ein, seltener zwei Jungtiere zur Welt, die sie für zwei bis drei Monate säugen. Nach frühestens 4 Monaten trennen sich die Jungtiere langsam von ihrer Mutter. Im Alter von etwa acht Monaten erreichen sie Geschlechtsreife. Die Lebenserwartung wird auf rund zehn Jahre geschätzt.[9]
Seit ihrer Entdeckung in den 1960er Jahren war der taxonomische Status der Iriomote-Katzen umstritten.
Im Jahr 1967 wurde sie als eigenständige Art und Gattung beschrieben, Mayailurus iriomotensis.[1] Später wurde sie der Gattung Prionailurus zugeordnet. In den 1990er Jahren durchgeführte mtDNA-Analysen deuten darauf hin, dass die Population dieser japanischen Wildkatze als Unterart der Bengalkatze (Prionailurus bengalensis) zu bewerten ist.[10] Nach der Publikation dieser Analysen klassifizierten die für die Iriomote-Katze verantwortlichen Gutachter der IUCN sie ab 1994 als Prionailurus bengalensis iriomotensis. Paul Leyhausen untersuchte mit seinen Mitarbeitern in den 1990er Jahren Schädel von Bengalkatzen und Iriomote-Katzen. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Proportion von Schädeln eindeutig die enge Verwandtschaft der Iriomote-Katze mit der Gattung Prionailurus zeige, und sie gemeinsame Merkmale mit Prionailurus bengalensis, der Fischkatze (Prionailurus viverrinus) und der Flachkopfkatze (Prionailurus planiceps) aufweise; auch Affinitäten mit den Gattungen Pardofelis und Profelis seien nicht zu übersehen. Die Unterschiede sind jedoch nach seiner Ansicht so groß, dass eine Klassifizierung der Iriomote-Katze als eigenständige Art Prionailurus iriomotensis gerechtfertigt sei.[11]
In den 1990er Jahren durchgeführte molekulargenetische Untersuchungen zeigten, dass sich die genetische Struktur von Iriomote-Katzen, Bengalkatzen und Amurkatzen unterscheidet; das Ausmaß der Unterschiede jedoch nur so groß sei, dass die Forscher die Klassifizierung der Iriomote-Katze als Unterart von Prionailurus bengalensis befürworteten.[12]
Die Cat Specialist Group der IUCN ordnet die Iriomote-Katze in einer im Jahr 2017 veröffentlichten Revision der Katzensystematik der Bengalkatzenunterart Prionailurus bengalensis euptilurus zu. Sie bildet jetzt also keine eigenständige Unterart mehr. Sowohl DNA-Vergleiche als auch die Schädelmorphologie sprechen für eine Zuordnung zur Bengalkatze, die ähnliche Fellfarbe führte zur Zuordnung zu P. b. euptilurus.[2]
Nach phylogeografischen Untersuchungen besiedelte die Population die Iriomote-Insel vermutlich vor etwa 90.000 Jahren vom südchinesischen Festland aus.[13]
Warnhinweis auf Iriomote-Katzen an der Straße mit “Zebrastreifen” und Gräben als Schutzmaßnahme
Die Population und das Verbreitungsgebiet der Katzen sind klein. Die Insel Iriomote umfasst nur 284 km². Die Population der Katzen wurde 1994 noch auf 99 bis 110 erwachsene Individuen geschätzt. Seither ist das von Iriomote-Katzen bevorzugte Habitat in der Umgebung von Feuchtgebieten in einem solchen Maße reduziert worden, dass die Population vermutlich noch kleiner geworden ist.[14]
In der Roten Liste gefährdeter Arten der Weltnaturschutzunion IUCN wird sie als vom Aussterben bedroht (Critically Endangered) geführt, da die Population weniger als 250 erwachsene Katzen umfasst. Auch im Anhang II des Washingtoner Artenschutzübereinkommen wird die Iriomote-Katze genannt.[14] Im Endangered Species Act der USA ist sie als gefährdet (endangered) aufgeführt.[15]
Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, 1999, ISBN 0-8018-5789-9.
↑ ab
Kitchener A. C., Breitenmoser-Würsten Ch., Eizirik E., Gentry A., Werdelin L., Wilting A., Yamaguchi N., Abramov A. V., Christiansen P., Driscoll C., Duckworth J. W., Johnson W., Luo S.-J., Meijaard E., O’Donoghue P., Sanderson J., Seymour K., Bruford M., Groves C., Hoffmann M., Nowell K., Timmons Z. & Tobe S. 2017. A revised taxonomy of the Felidae. The final report of the Cat Classification Task Force of the IUCN/ SSC Cat Specialist Group. Cat News Special Issue 11, 80 pp. S. 26–28.
↑ abM. Izawa, T. Doi, Y. Ono: Social system of the Iriomote cat (Felis iriomotensis). 5th International Theriological Congress, Rome, 27-29 August. Vol. 2, 1989, S. 608.
↑ abN. Sakaguchi: Ecological aspects and social system of the Iriomote cat Felis iriomotensis (Carnivora; Felidae). PhD thesis, Kyushu University 1994.
↑K. Schmidt, N. Nakanishi, M. Izawa, M. Okamura, S. Watanabe, S. Tanaka, T. Doi: The reproductive tactics and activity patterns of solitary carnivores – the Iriomote cat. In: Journal of Ethology. 27(1), 2009, S. 165–174. doi:10.1007/s10164-008-0101-4.
↑M. Okamura: A study on the reproduction and social systems of the Iriomote cat, Felis iriomotensis. PhD thesis, Kyushu University, Fukuoka, Japan 2002.
↑N. Sakaguchi, Y. Ono: Seasonal change in the food habits of the Iriomote cat Felis iriomotensis. In: Ecological Research. 9 (2), 1994, S. 167–174. doi:10.1007/BF02347492.
↑R. Masuda, M. C. Yoshida: Two Japanese wildcats, the Tsushima cat and the Iriomote cat, show the same mitochondrial DNA lineage as the leopard cat Felis bengalensis. In: Zoological Science. 12, 1995, S. 655–659.
↑P. Leyhausen, M. Pfleiderer: The systematic status of the Iriomote cat (Prionailurus iriomotensis Imaizumi 1967) and the subspecies of the leopard cat (Prionailurus bengalensis Kerr 1792). In: Journal of Zoological Systematics and Evolutionary Research. 37 (3), 1999, S. 121–131. doi:10.1111/j.1439-0469.1999.tb00974.x
↑W. C. Wozencraft: Prionailurus iriomotensis. In: Don E. Wilson, DeeAnn M. Reeder (Hrsg.): Mammal Species of the World. A Taxonomic and Geographic Reference. 2 Bände. 3. Auflage. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2005, ISBN 0-8018-8221-4 (englisch, bucknell.edu [abgerufen am 9. Dezember 2020]).
Gérard Lenorman während eines Auftritts im niederländischen Rijnsburg, 1982
Gérard Christian Eric Lenorman (* 9. Februar 1945 in Bénouville, Département Calvados in der Normandie) ist ein französischer Sänger und Chansonnier. Er gehörte zu einer jungen Generation von Chansonniers, die nicht mehr im klassischen Stil komponierten und sangen, sondern die Jugendkultur ihrer Zeit repräsentierten und französische Popsongs im Geist der späten 1960er/1970er Jahre darboten. Zu seinen bekanntesten Titeln gehören La Ballade des gens heureux aus dem Jahr 1975 sowie Voici les clés aus dem Jahr 1976.
Gérard Lenormans Mutter, Madeleine Lenorman, brachte ihren Sohn im Alter von 16 Jahren auf der Geburtsstation des Château de Bénouville zur Welt, einer seit 1927 von Nonnen betriebenen Institution zur Aufnahme von minderjährigen Schwangeren. Sein Vater wurde als unbekannt eingetragen. Erst mit 35 Jahren, nachdem er einen Teil seiner Kindheit in einem Waisenhaus zugebracht und als junger Mann ein bekannter Chansonnier geworden war, erfuhr Gérard Lenorman, dass sein Vater ein Soldat der deutschen Besatzungstruppen gewesen war, der den Vornamen Erich trug und im zivilen Leben Geiger und Dirigent war. Dennoch sollte er seinen Vater nie kennenlernen. Anlässlich der späten Offenbarung der eigenen Herkunft schrieb er 1980 ein Lied mit der deutschen Titelzeile Warum mein Vater.[1]
Seine erste Platte nahm Lenorman 1967 auf. 1968 lernte er Brigitte Bardot kennen und schrieb zwei Chansons für sie (La Fille de paille und Je voudrais perdre la mémoire). 1969 trat er mit mehreren seiner Lieder im Begleitprogramm der Tournée von Sylvie Vartan auf. 1970/71 übernahm er von Julien Clerc die Hauptrolle in der französischen Version des Musicals Hair. 1971 unterschrieb er einen Plattenvertrag mit der Firma CBS Disques, und in den folgenden Jahren erschienen seine größten Erfolge, darunter Il (Il parle aux oiseaux), 1971; Les matins d’hiver, 1972; Si tu ne me laisses pas tomber, 1973; Quelque chose et moi, 1974; La Ballade des gens heureux, 1975; Michèle, 1976; L’enfant des cathédrales, 1977; Si j’étais président, 1980.
Sein erfolgreichstes Lied in Deutschland war La Ballade des gens heureux; auch Michèle wurde von deutschen Rundfunkanstalten öfters gespielt. Im Jahr 1986 veröffentlichte Lenorman das Lied Les Bleu des regrets, das auf dem im selben Jahr erschienenen Berlin-Klassiker Take My Breath Away basierte. 1988 nahm er für Frankreich am Eurovision Song Contest teil; sein Beitrag Chanteur de charme schaffte es mit 64 Punkten auf Platz 10.
Ende 2011 feierte Lenorman ein bemerkenswertes Comeback, als eine Sammlung mit Duetten, Duos de mes chansons, auf Platz zwei der französischen Album-Charts landete. Das Werk beinhaltete Neuaufnahmen seiner großen Erfolge; ihm zur Seite standen dabei Kollegen wie Tina Arena, Anggun oder Patrick Fiori. Duos de mes chansons konnte sich über ein Jahr in den Charts halten.[2]
Mit seiner Ehefrau Caroline hatte Lenorman vier Kinder: Mathieu (1974), Justine (1977), Clémence (1980) und Victor (1985).[3] Die Ehe wurde 1989 geschieden.
Sueva (1969)
Je partirai (1970)
Le Petit Prince (1972)
Si tu ne me laisses pas tomber (1973)
Je n’ai jamais rencontré Dieu (1974)
Je vous écris (1974)
Soldats ne tirez pas (1974)
La ballade des gens heureux (1975, auch auf Deutsch unter dem Titel Das Lied der kleinen Leute, 1978)
Warja Lavater (* 28. September 1913 in Winterthur; † 3. Mai 2007 in Zürich – nach der Heirat Warja Honegger-Lavater) war eine international bekannte Schweizer Grafikerin, Illustratorin, Buchkünstlerin, Filmemacherin und Malerin. Die Künstlerin ist vor allem bekannt für ihre Künstlerbücher und Leporellos, die klassische Märchen in einer künstlerischen Zeichensprache und Piktogrammen nacherzählen. Internationales Renommee erlangte sie mit dem Künstlerbuch Wilhelm Tell, das 1962 vom Museum of Modern Art herausgebracht wurde.[1]
Noch bevor sich der Begriff Artist’s book etabliert hatte, definierte Warja Lavater das Buch als künstlerisches Experimentierfeld für sich.[2] Sie blieb nicht beim kleinen Format, sondern vergrösserte ihre Leporellos zu eigenständigen Skulpturen. Ab den 1970er-Jahren begann sie aus handgeschöpftem Papier kleine und grössere Papier-Skulpturen zu formen, sogenannte Paper Art.[3]
Ihre Artists’ books bezeichnete sie als Folded Stories, Pictosonies, Sing-Song-Sings und Imageries. Diesen Werken liegt die Idee zugrunde, dass abstrakte Bildelemente Geschichten visuell erzählen können.[1] Als Medium wählte die Künstlerin das Leporello. Dieses vermag durch seine ausziehbaren und faltbaren Seiten die Beweglichkeit und den zeitlichen Verlauf einer Erzählung wie auf einem Filmstreifen einzufangen.[1] Die in immer neuen Konstellationen sich wiederholenden Symbole werden in einer Legende erklärt, so dass sich die abstrakten Bilder wie bei einer Landkarte mittels der Zeichenerklärung entziffern lassen.
Kindheit und Herkunft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Barbara Esther Lavater wurde am 28. September 1913 auf dem Brühlberg in Winterthur als Tochter der Schriftstellerin Mary Lavater-Sloman und deren Ehemann, des Ingenieurs Emil Lavater geboren. Die ersten neun Lebensjahre verbrachte sie mit ihren Eltern in Moskau und Athen, bevor sich die Familie 1922 in Winterthur niederliess.[4]
Mit neun Monaten reiste sie mit ihren Eltern nach Moskau, wo der Vater die Firma Sulzer AG repräsentieren sollte. 1915 wurde der Bruder Hans Caspar geboren. Das russische Kindermädchen gab ihr den Namen Warja, eine Koseform von Warwara (russisch für Barbara). Nach der Februarrevolution 1917 wurde die Situation für die Familie zunehmend gefährlich. Die Flucht wurde beschlossen, und so fuhren sie mit wenig Gepäck auf einem Pferdewagen los, um durch verschneite Landschaften und über Umwege nach Hamburg zu gelangen.[5] Bei den Eltern der Mutter konnten sie logieren. Allerdings wurde der Vater bald zum Militärdienst in die Schweiz abberufen und reiste alleine ab. Die Mutter folgte ihm mit zwei kleinen Kindern später nach.[4][6]
1919 wurde Emil Lavater erneut von der Firma Sulzer ins Ausland geschickt, diesmal als ihr Vertreter in Athen. Im selben Jahr kam der zweite Bruder Hans Rudolf zur Welt. Die inzwischen fünfköpfige Familie wohnte in einer Villa in einem Vorort von Athen. Warja besuchte mit ihrer Mutter oft die Akropolis. Nach zwei Jahren in Athen zwang der Griechisch-Türkische Krieg Emil Lavater, seine Vertretung aufzugeben und mit seiner Familie nach Winterthur zurückzukehren. 1926 wurde die Schwester Cleophea Ursula als letztes Kind der Familie geboren.[4][6]
Warja wurde 1921 zum ersten Mal in eine Schule geschickt und hatte wegen ihrer geringen Vorkenntnisse Schwierigkeiten in den Fächern Mathematik und Schreiben. Diese Erfahrung schlug sich später produktiv in ihrem künstlerischen Schaffen nieder: Sie wusste, wie seltsam es sich anfühlt, wenn den Bild-Zeichen plötzlich Laute und Klänge und Bedeutung zugeordnet werden.[4]
Ausbildung zur Grafikerin[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Warja wurde an der Kunstgewerbeschule Zürich als Grafikerin ausgebildet.
Es war ihr Vater, der Warja Lavater die Zweifel nahm und sie unterstützte, sich zur Grafikerin ausbilden zu lassen. Sie erinnerte sich, dass sie mit ihrem Vater als junge Frau in Winterthur auf einem Spaziergang an einer schwarzen Güterlokomotive vorbeikam. Der Vater zeigte auf die schöne grosse goldene Ziffer und meinte beruhigend: «Nicht unbedingt eine Malerin musst du sein … Es gibt heutzutage einen ganz modernen Beruf, wie er heisst, das weiss ich nicht, da lernst du eine solche Ziffer zu zeichnen!»[7] Und so fiel die Entscheidung: Am 2. Februar 1931 meldete sie sich an der Gewerbeschule der Stadt Zürich an.
Die Aufnahmebedingungen unterlagen einem strengen Genderkriterium. Es hiess, Mädchen würden in kunstgewerblichen Berufen sehr schwer eine Anstellung finden, weshalb die Aufnahme von Schülerinnen beschränkt sei.[8] Die zweitägige Aufnahmeprüfung fand im März 1931 statt. Lavater berichtet, dass sie, nach dem Vorbild des Bauhaus-Vorkurses, senkrechte und waagrechte Linien und einen Kreis zeichnen sowie den drei geometrischen Formen – Kreis, Quadrat und Dreieck – eine Grundfarbe zuordnen musste.
Nach bestandener Aufnahmeprüfung verliess Lavater vorzeitig das Gymnasium in Winterthur und begann die sogenannte Allgemeine Klasse – das propädeutische Jahr – an der Kunstgewerbeschule Zürich.[8] Damals befand sich die Kunstgewerbeschule, eine Abteilung der Gewerbeschule, noch im Ostflügel des Landesmuseums. 1933 wurden alle Abteilungen der Gewerbeschule an einem Ort zusammengeführt: im modernen Neubau an der Ausstellungsstrasse, dem heutigen Museum für Gestaltung Zürich.[6]
Nach dem propädeutischen Jahr wurde sie in die Grafikklasse von Ernst Keller aufgenommen und lernte bei ihm die Grundlagen des Gestaltens. Keller begann seine Stunden immer mit dem Wichtigsten, dem schriftgrafischen Zeichnen, wie sich Lavater rückblickend erinnerte.[7] Es ging dabei um Fragen der visuellen Komposition und Wirkung sowie der praktischen Durchführung von der gelungenen Skizze zur «Reinzeichnung». Er brachte seinen Schülern «duftende» Zigarrenschachteln mit und erklärte den Sinn des Ornamentes für die Verpackung.[7] Die für die Produkte entworfene Etiketten sollten nach dem Inhalt gestaltet werden. Bei einem Produkt wie teurem Wein müsse der köstliche Geschmack visuell mitgeteilt werden.[7]
Im März 1935 schloss Lavater ihre Ausbildung zur Grafikerin mit einem Diplom ab. Ihre Leistungen wurden mit einer Gesamtnote von gut bis sehr gut bewertet und ihr die Berufsfähigkeit attestiert. Noch Jahre später war Lavater voller Bewunderung und Dankbarkeit für ihren Grafiklehrer: «Ein Lehrer der wie zugeschnitten, für meine Art mich auszudrücken, war, der mir alles beibrachte, das ich in der Folge, mein ganzes Leben lang angewendet und weiterentwickelt habe. Noch heute höre ich innerlich seine Bemerkungen, seine Axiome.»[7]
Den Grafikerin-Beruf übte Warja Lavater weitgehend zusammen mit ihrem späteren Mann Gottfried Honegger aus. Nach ihrer Ausbildung an der Kunstgewerbeschule Zürich nahm Lavater eine Stelle in Basel an. Sie wohnte bei ihrer Tante Louise und arbeitete als Grafikerin bei Hermann Eidenbenz. Unter ihm nahm sie an der Gestaltung des Schweizer Pavillons für die Weltausstellung in Paris teil und war bei der Eröffnung im Mai 1937 zugegen. Im selben Jahr besuchte sie einen Kurs für Modezeichnen an der Académie de la Grande Chaumière in Paris.[4]
Im April 1937 kontaktierte der junge Schaufenster-Dekorateur Gottfried Honegger, der einen Partner für sein Grafikatelier in Zürich suchte, Warja Lavater in Basel, nachdem Hermann Eidenbenz sie ihm empfohlen hatte.[4] Gottfried und Warja gründeten sogleich das Atelier Honegger und Lavater. Ihre erste Geschäftsadresse war an der Stockerstrasse in Zürich. Anfänglich waren die Aufträge vor allem Werbeplakate für Restaurants und Coiffeuresalons. Honegger kümmerte sich um die Aufträge und Lavater besorgte die grafische Gestaltung.[9]
Immer besser fassten die beiden Fuß und erhielten Aufträge von grösseren Firmen wie PKZ, Grieder, Bally und Geigy. Durch den Emblem-Entwurf für die Schweizerische Landesausstellung und das Logo für den Schweizerischen Bankverein (heute UBS) 1939 gelang es ihnen, sich im Raum Zürich zu etablieren.[4] Gottfried war wissbegierig, lernte schnell von seiner Partnerin die Grundgesetze der Gestaltung und übernahm immer öfter auch selbst den kreativen Part.[9] Im grafischen Atelier ergänzten sie sich: Während Lavater mit Akribie gestaltete, brachte Honegger neue Ideen und Techniken wie die Fotomontage ein.
Sie schuf unter anderem die Signete für den Schweizerischen Bankverein (drei Schlüssel[10]) und für die Schweizerische Landesausstellung 1939.[11] Ein zweijähriger Aufenthalt in New York in den Jahren 1958 bis 1960 brachte entscheidende Impulse für ihre spätere künstlerische Tätigkeit. Werbeschilder und Signale im Strassenbild von New York regten sie dazu an, Piktogramme als bildsprachliche Elemente zu verwenden.
Künstlerehe[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Nach einem gemeinsamen Aufenthalt in Paris im Winter 1938/39 verlobte sich Warja Lavater und Gottfried Honegger. Das Paar heiratete am 21. Juni 1940.[4] Das Atelier hiess fortan Honegger-Lavater. 1943 und 1944 wurden die Töchter Bettina und Cornelia geboren. Nach dem Krieg bezog die Familie eine Elf-Zimmer-Wohnung an der Kirchgasse 50 mitten in der Altstadt von Zürich. Sie wurde ein Ort des intensiven sozialen Austausches, ein Treffpunkt für Intellektuelle und Künstler aus ganz Europa. Neben hier ansässigen Künstlern wie Max Bill, Max Frisch, Hermann Hesse oder Robert Gessner sind auch Benjamin Britten, Richard Hülsenbeck und viele mehr zu nennen.
In dieser Zeit regen gesellschaftlichen Lebens begannen Gottfried und Warja zu malen; neben der alltäglichen Gebrauchsgrafik gewann die freie Kunst zunehmend an Bedeutung. 1960 konnten beide den Sprung wagen: Nach einem zweijährigen Aufenthalt in New York hatten sie genug internationale Kontakte, um sich in als freischaffende Künstler zu etablieren. Gottfried hatte als Kunstagent für die J. R. Geigy AG die Künstlerszene und die Museen sowie Galerien in New York kennengelernt. Mit einer Ausstellung bei Martha Jackson gab er sein Debüt als Künstler, seitdem verkaufte er seine Bilder mit Erfolg. Ab 1960 besass jeder sein eigenes Atelier.
Von 1963 bis zu seiner Trennung 1972 lebte das Ehepaar Honegger-Lavater abwechselnd im Winter in Paris und im Sommer in der Nähe von Zürich; den Zweitwohnsitz in Paris behielt Warja Lavater bis ins hohe Alter bei. Sie hatte zwei Töchter, Bettina (* 1943) und Cornelia (* 1944).
1972 verliess Gottfried Warja; die Ehe wurde gerichtlich am 30. August 1974 getrennt. Die Scheidung erfolgte allerdings erst am 22. September 1993, sechs Tage vor Warjas 80. Geburtstag. In beiden Fällen war Warja die Klägerin, aber aus den Briefen geht hervor, dass in erster Linie Gottfried die Trennung und die Scheidung wollte. Es ging ihm um «Freiheit» und «Unabhängigkeit», um seinen Weg als Künstler. Für Warja waren Trennung und Scheidung gravierende Einschnitte in ihrem Leben, die sie immer wieder erwähnte. Zugleich löste die Trennung von ihrem Mann eine neue Schaffensphase aus.
Warja Lavater starb 2007 und wurde auf dem Zürcher Friedhof Fluntern beigesetzt.
Abstrakte Druckgrafiken der 1950er-Jahre[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Farbpalette passend zum Märchenensemble von Warja Lavater
In der ersten Hälfte der 1950er-Jahre entstand eine Reihe von abstrakten Druckgrafiken, die aus dem Gesamtwerk herausstechen. Es sind Radierungen von hoher handwerklicher und ästhetischer Qualität, deren figurative Abstraktionen Motive aus dem Grossstadtleben in New York und Paris spiegeln. Lavater hatte verschiedene Kurse für Radierung besucht, zum Beispiel am Royal College in London und bei Friedlander in Paris. Die Ausstellung ihrer Radierungen in George Wittenborns Kunstbuchhandlung in New York 1957/58 war eine ihrer ersten Schauen als Künstlerin. Die experimentelle Kombination von verschiedenen Radiertechniken erlernte Warja Lavater in Kursen bei Stanley William Hayter in New York und Johnny Friedlaender in Paris. Ihre ersten abstrakten Originalgrafiken reichen ins Jahr 1955 zurück und bilden den Auftakt ihrer eigenständigen künstlerischen Arbeit.[6]
Künstlerbücher der 1960er-Jahre[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Ab 1960 begann sie Künstlerbücher – ihre ersten Folded Stories– zu erfinden. Folded Stories deswegen, weil es Leporellos mit gezeichneten Geschichten waren. Die Zeichnungen sind keine gewöhnlichen Illustrationen, sondern Bildfolgen von abstrakten Zeichen, die LavaterSing-Song-Signs nannte.[1] Wie bei einer Landkarte ist die Bedeutungen von jedem verwendeten Zeichen in einer Legende festgelegt und jedem Leporello vorangestellt. Auf den Leporello-Seiten entfaltet sich sodann das visuelle Spiel mit den Sing-Song-Signs. Diesem Konzept, mittels abstrakter Zeichen Geschichten zu visualisieren, blieb Lavater ihr ganzes Leben treu. Sie erprobte es in den unterschiedlichsten Medien: Leporellos (livre mural, livre sculpté), Filme, Originalgrafiken, Zeichnungen, Malerei, Kunst am Bau, Filz, Stoff-Fahnen.[6]
1962 gab das Museum of Modern Art auf Veranlassung seines Direktors Alfred Barr das Leporello Wilhelm Tell heraus, in dem Warja Lavater mit Symbolen und abstrakten Formen eine Geschichte erzählt. Die späteren Werke, die sie Imageries nennt, darunter viele weitere Leporellos, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Pariser Verleger Adrien Maeght und dem Basler Drucker Rudolf Indlekofer.
Die Piktogramm-Märchen Imageries erfuhren 1995 eine filmische Animation.
Verwendete und kombinierte Formen in Warja Lavaters Märchencode
Paper Art der 1970er bis 1980er-Jahre[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Anfang der 1970er-Jahre begann Lavater mit handgeschöpftem Papier zu experimentieren. Das Werk Dialogue entstand als Projekt für die erste Papier-Biennale am Leopold-Hoesch-Museum in Düren 1986. Die Skulpturen formte Warja Lavater aus Papiermasse, sie war dafür in François Lafrancas Papiermühle bei Locarno zu Gast. Mit Dialogueerschloss sich Lavater ein neues künstlerisches Medium, nämlich das der Papierkunst / Paper Art und blieb dennoch ihren Künstlerbüchern konzeptuell treu. Den Papierbögen, die wie aufgeklappte überdimensionale Buchrücken aussehen, fügte sie Löcher und Risse zu und färbte sie teilweise schwarz. Die Nähe zum Buch erinnert an die Leporellos aus den 1970er Jahren, die sie “livres sculptés”nannte.[6]
Kunst-am-Bau-Werke für die Wasserversorgung Zürich 1972–1985[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Für die Wasserversorgung Zürich gestaltete Warja Lavater drei Keramik-Wandbilder für unterschiedliche Standorte:
1971/72 für die Fassade des Strickhof Wasser-Reservoirs,
1974/75 für das Wasserschloss Gontenbach im Tierpark Langenberg (Wildnispark Zürich),
1980/81 für das Grundwasserwerk Hardhof
1984/85 für das Ventilwerk Hubenstrasse in Schwamendingen
Die Arbeiten im Tierpark Langenberg und Grundwasserwerk Hardhof sind Kunstinstallationen der ersten Stunde. Lavater projektierte für die Innenräume der Wasserwerke eine Klang-Bild-Licht-Show, die mit dem fliessenden Wasser, den eintretenden Besucherinnen per Bewegungsmelder abgestimmt war. Beide Installationen sind als Durchgang konzipiert. Eine dicke Fensterscheibe gewährt Einblicke ins Innere des Wasserwerkes und über Lautsprecher ertönen im Durchgang Gedichte von Jean Pierre Gerwig rezitiert. Die Wände im Inneren sind mit bemalten Kacheln ausgekleidet.[12] Das Verteilzentrum Hardhof ist seit ca. 2002/3 abgestellt und die Kunstinstallation somit nicht mehr zugänglich. Gontenbach ist hingegen immer noch in Betrieb und lässt sich in Verbindung mit einem Spaziergangs durch den Tierpark Langenberg besichtigen.
Auf Grund der Entwürfe für die beiden Keramik-Wandbilder für die Einrichtungen Strickhof und Gontenbach lässt sich annehmen, dass Warja Lavater die Gestalterin des bekannten Logos der Wasserversorgung Zürich war, wenn auch kein offizieller Auftrag an sie gerichtet wurde. Da das Zeichen aber in allen drei Werken erscheint, ist dies plausibel.[6]
Im April 1995 wurden die Imageries – audiovisuelle Adaptionen von Lavaters Leporello-Märchen – in Paris veröffentlicht. In einer Kooperation der Produktionsfirma Cinquième Agence mit dem Sender France 3, dem Animationsstudio Mac Guff Ligne und dem Musikinstitut IRCAM sowie dem Verleger Adrien Maeght entstanden sechs Kurzfilme, deren Produktion Warja Lavater intensiv begleitete. Mit dem Filmteam besprach die Künstlerin eingehend Ton, Bewegung und Rhythmus der Bilder. Auch betonte sie immer wieder, wie wichtig es ihr sei, keine Erzählstimme einzubeziehen. Das Prinzip der nonverbalen, rein visuellen Erzählung blieb so erhalten. Der Film Le Petit Poucetgewann 1995 mehrere Preise auf dem Filmfestival Imagina in Monaco.[6]
Ausstellungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Im Jahr 2003 ehrte das Haus Konstruktiv in Zürich die Künstlerin mit einer Ausstellung zu ihrem 90. Geburtstag.
Der künstlerische Nachlass von Warja Lavater befindet sich in der Graphischen Sammlung der Zentralbibliothek Zürich.
Vom 3. März bis zum 19. Juni 2021 findet die Ausstellung Warja Lavater: Sing-Song-Signs & Folded Stories in Zentralbibliothek Zürich statt.[13] Der Fokus wurde auf Lavaters Künstlerbüchern und Bilderschrift gelegt. In ihrer Vernissage-Ansprache erläutert die Kuratorin Carol Ribi das Phänomen der Sing-Song-Signs und der Bilderschrift im Werk von Warja Lavater.[14]
Wilhelm Tell Gezeichnet von Warja Honegger-Lavater. Basilius-Presse, Basel/Stuttgart 1962. 9 × 12 cm. 22-teiliges Leporello. Folded Story 1. Neuausgabe: Leporello mit 24 Seiten, 12,5 × 16 cm, mit Anleitungen in deutsch, französisch, italienisch, rätoromanisch und englisch, NordSüd Verlag, Zürich 2019, ISBN 978-3-314-10492-3.
Die Grille und die Ameise. Fabel von La Fontaine. Übers. v. N.O. Scarpi. Lithographie in Leporello-Faltung. Basilius-Presse, Basel 1962. 12 × 6,5 cm. 22 S. Grüner Orig.-Pappband. Folded Story 2. Gedruckt als Original Lithographie im Atelier Emil Matthieu Zürich.
Matsch. Original Lithographie von Warja Honneger-Lavater in Leporello-Faltung. Basilius-Presse, Basel 1962, 12 × 9 cm. 22 S. Pappband m. rotem u. blauem Deckel. Folded Story 3.- Gedruckt als Orig.-Lithographie im Atelier Emil Matthieu Zürich.
Die Party. Die vier Temperamente: Sanguiniker. Choleriker. Phlegmatiker. Melancholiker oder Party bei… Orig.-Lithographie von Warja Honegger-Lavater in Leporello-Faltung. Basilius-Presse, Basel 1962. 12 × 9 cm. 22 S. Violetter Pappband. Folded Story 4. – Als Orig.-Lithographie gedruckt im Atelier Emil Matthieu Zürich.
La promenade en ville dessine sur pierre par Warja Honegger-Lavater. Basilius-Presse, Bale/Basel/Stuttgart 1962. 12,1 × 9,1 cm. 22 Bl. Leporello Orig.-Lithographie in Schwarz, Rot u. Grün. Folded Story 5.
Das hässliche junge Entlein – Le Vilain petit canard – The ugly duckling. Basilius-Presse, Basel 1965. Folded Story 15 – Gedruckt als Original-Lithographie im Atelier Emil Matthieu Zürich. Die Folded Stories sind kleine Kunstwerke, sie sind so gestaltet, daß sie sowohl als Bücher wie als Wandschmuck verwendet werden können (Klappentext)
Warja Honegger-Lavater, Charles Baudelaire: Chacun sa chimere. (Ein jeder trägt an seinem Wahn). D. Hürlimann 1953. 36 : 27,3 cm. 2 Bl. u. 5 Original-Kaltnadel-Radierungen kombiniert mit Farblithographie. Schwarzer Büttenumschlag mit Titelaufdruck in Weiss.
Hans im Glück erzählt und auf Stein gezeichnet von Warja Honegger-Lavater, gedruckt als Original-Lithographie im Atelier Emil Matthieu Zürich, Basilius Presse Basel, 1967, 2. Auflage. Folded Story 14
Monika Plath, Karin Richter: Die Bildwelten der Warja Lavater «Schneewittchen». Modelle und Materialien für den Literaturunterricht (Klasse 1 bis Klasse 5). Schneider Hohengehren, Baltmannsweiler 2006, ISBN 3-89676-958-8. In: EWR 6 (2007), Nr. 2[15]
Carol Ribi, “Spielräume des ‘Graphischen’: Warja Lavaters Symbolnotationen und Kunstbücher.” In: 100 Jahre Schweizer Grafik. Hrsg. v. Christian Brändle … [et al.], Zürich: Lars Müller Publisher, 2014, S. 306–309.
Carol Ribi, “Modi der Wahrnehmung: Exemplifiziert an Warja Lavaters Künstlerbuch Ergo” in: Die Kunst der Rezeption. Hrsg. v. Marc Caduff … [et al.], Bielefeld: Aisthesis, 2015, S. 247–255.
Carol Ribi, “Warja Lavaters Folded Stories. Werkgenese und Wirkungsästhetik”, in: Die Geschichte(n) gefalteter Bücher: Leporellos, Livre-Accordéon und Folded Panoramas in Literatur und bildender Kunst. Hrsg. v. Christoph Benjamin Schulz. Hildesheim; Zürich; New York: Olms 2019, 347–372.
↑ abcdCarol Ribi: Spielräume des ‘Graphischen’: Warja Lavaters Symbolnotationen und Kunstbücher. In: Museum für Gestaltung Zürich (Hrsg.): 100 Jahre Schweizer Grafik. Lars Müller, Zürich 2014.
↑Carol Ribi: Warja Lavaters Folded Stories. Werkgenese und
Wirkungsästhetik. In: Christoph Benjamin Schulz (Hrsg.): Die Geschichte(n) gefalteter Bücher: Leporellos, Livres-Accordéon und Folded Panoramas in Literatur und bildender Kunst. Olms, 2019.
↑Carol Ribi: Warja Lavater’s “Sing-Song-Signs” and “Folded Stories”. In: Susana González Aktories and Susanne Klengel (Hrsg.): Open Scriptures. Notation in Contemporary Artistic Practices in Europe and the Americas. Iberoamericana / Vervuert, Madrid / Frankfurt 2021.
↑ abcdefghAutobiographische Texte aus dem Nachlass Warja Lavater (3), Handschriften, Nachlässe und Archivalien der Zentralbibliothek Zürich
↑Erinnerungstexte der Mutter aus dem Nachlass Warja Lavater (1), Handschriften, Nachlässe und Archivalien der Zentralbibliothek Zürich
↑ abcdefghCarol Ribi: Ausstellungstexte für die Ausstellung Warja Lavater: Sing-Song-Signs & Folded Stories, Zentralbibliothek Zürich, 3.3. bis 19.6.2021.
↑ abcdeWarja Lavater: Freie Grafik…. Erinnerungen an die Grafikklasse der Kunstgewerbeschule Zürich. In: Kunstgewerbemuseum der Stadt Zürich (Hrsg.): Werbestil 1930 – 1940 Die alltägliche Bildersprache eines Jahrzehnts. Zürich 1981.
↑ abDokumente aus dem Nachlass Warja Lavater (2), Handschriften, Nachlässe und Archivalien der Zentralbibliothek Zürich
↑ abCarol Ribi: Film-Interview mit Gottfried Honegger, Zürich, 2012.
Geldscheine zu einer Mark: billiger als Tapeten, 1923
Goldpreis in Papiermark pro Feinunze 1918–1923 (halblogarithmische Darstellung)
Entwertung der Papiermark Anfang 1918 bis Ende 1923 (bezogen auf 1 Goldmark; halblogarithmische Darstellung)
Die deutsche Inflation von 1914 bis November 1923 war eine der radikalsten Geldentwertungen in großen Industrienationen. Die Vorgeschichte dieser Hyperinflation findet sich in der Finanzierung des Ersten Weltkrieges. Mit dem Ende des Krieges 1918 hatte die Mark bereits offiziell mehr als die Hälfte ihres Wertes verloren, genauer: ihrer Kaufkraft im Innen- und Außenverhältnis. Allerdings waren die Preise während des Krieges kontrolliert, auf dem Schwarzmarkt waren die Preise jedoch bereits weit stärker gestiegen. Eigentliche Ursache der ab 1919 anziehenden Inflation, die ab Mitte 1922 in eine Hyperinflation überging, war die massive Ausweitung der Geldmenge durch den Staat in den Anfangsjahren der Weimarer Republik.[1]
Die Reichsregierung hob kurz nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges am 4. August 1914 die gesetzliche Noteneinlösungspflicht der Reichsbank in Gold (siehe Mark) auf. Außerdem wurden die staatlichen Möglichkeiten zur Schuldenaufnahme und der Vermehrung der Geldmenge bei den Scheidemünzen und Banknoten durch die Aufhebung des Goldankers (= gesetzliche Dritteldeckung der Reichsbanknoten durch Gold) ausgeweitet. Der Plan war vor Kriegsbeginn im Geheimen entstanden; er wurde von der sogenannten „nationalen Begeisterung“ getragen. Die Kriegsfinanzierung auf Pump erfolgte mit Hilfe von Kriegsanleihen, die der Staat ausgab und die von der Bevölkerung anfänglich begeistert gezeichnet wurden, später jedoch kaum noch Anleger fanden. Zusätzlich führte der Staat mit den Darlehenskassenscheinen eine Parallelwährung ein, die von den Darlehenskassen ausgegeben wurden, zusätzlich zu den Reichsmark-Banknoten der Reichsbank. Ihr Wert entsprach dem der Reichsmark-Banknoten, sie besaßen zudem ebenfalls keinen realen Wertanker mehr.
Auf eine Finanzierung des Krieges durch Steuern verzichtete das Deutsche Reich weitgehend, obwohl der Aufmarsch und die Versorgung der deutschen Streitkräfte, deren Stärke nach der Mobilmachung auf mehrere Millionen anwuchs, nie dagewesene Kosten mit sich brachte.
Gleichzeitig sollte die Kaufkraft der Bevölkerung für den Militärbedarf abgeschöpft bzw. stillgelegt werden, um bei der vorauszusehenden kriegsbedingten Güterverknappung im Inland der Schwarzmarktbildung durch Geldverknappung bei den Bürgern entgegenwirken zu können. Um an zusätzliches Geld und Gold zu kommen, wurden zwischen September 1914 und September 1918 insgesamt neun Kriegsanleihen und die Aktion Gold gab ich für Eisen aufgelegt. Anders als in Großbritannien und Frankreich, wo der Krieg teilweise durch Vermögensteuern finanziert wurde, sollten diese Kriegsanleihen nach dem „Siegfrieden“ mit der „Kriegsbeute“ in Form von Reparationen dann wieder abgelöst werden. Die hohen Reparationen, die Frankreich nach dem verlorenen Krieg 1870/71 gezahlt hatte, waren vielen noch in Erinnerung.
Der konservative Staatsminister Karl Helfferich bekannte sich im August 1915 in einer Sitzung des Reichstages zur Finanzierung des Krieges durch die Kriegsgegner in Form von Reparationen:
„Meine Herren, wie die Dinge liegen, bleibt also vorläufig nur der Weg, die endgültige Regelung der Kriegskosten durch das Mittel des Kredits auf die Zukunft zu verschieben, auf den Friedensschluss und auf die Friedenszeit. Und dabei möchte ich auch heute wieder betonen: Wenn Gott uns den Sieg verleiht und damit die Möglichkeit, den Frieden nach unseren Bedürfnissen und nach unseren Lebensnotwendigkeiten zu gestalten, dann wollen und dürfen wir neben allem anderen auch die Kostenfrage nicht vergessen; [lebhafte Zustimmung] das sind wir der Zukunft unseres Volkes schuldig. [‚Sehr wahr!‘-Rufe]
Die ganze künftige Lebenshaltung unseres Volkes muss, soweit es irgend möglich ist, von der ungeheuren Bürde befreit bleiben und entlastet werden, die der Krieg anwachsen lässt. [weitere ‚Sehr wahr!‘-Rufe]
Das Bleigewicht der Milliarden haben die Anstifter dieses Krieges verdient; [‚Sehr richtig!‘-Rufe] sie mögen es durch die Jahrzehnte schleppen, nicht wir. [‚Sehr gut!‘-Rufe]“
– Stenographische Berichte der Verhandlungen des Reichstags[2]
Die Geldvermehrung über die Druckerpresse geschah während des Krieges finanzierungstechnisch gesehen in der Form von sogenannten Schatzanweisungen, die durch die Zeichnung von Kriegsanleihen im Nachhinein durch die Bevölkerung finanziert werden mussten, sollten sie nicht reine Vermehrung von Geldzeichen sein. Die folgende Tabelle zeigt die immer geringere Deckung:
Kriegsanleihen und Schatzanweisungen (in Millionen Mark)[3]
Kriegsanleihe
Nennbetrag der Zeichnung
Ausstehende Schatzanweisungen
Saldo
1.
September 1914
4.460
2.632
+1.832
2.
März 1915
9.060
7.209
+1.851
3.
September 1915
12.101
9.691
+2.410
4.
März 1916
10.712
10.388
+324
5.
September 1916
10.652
12.766
−2.114
6.
März 1917
13.122
14.855
−1.733
7.
September 1917
12.626
27.204
−14.578
8.
März 1918
15.001
38.971
−23.970
9.
September 1918
10.443
49.414
−38.971
Gleichzeitig nahm die Menge an Verbrauchsgütern (Nahrung, Bekleidung, Heizstoffe usw.) für den Verbrauch im Inland für den Bürger mit der Dauer des Krieges ab.[4] Es kam zu vielfältigen Güterengpässen, die zu Ersatz- und Austauschstoffen zwangen, zum Beispiel Kaffeeersatz statt Bohnenkaffee oder Brennnesselfasern anstelle von Baumwolle. Außerdem wurden erhebliche höherwertige Warenmengen für den Unterhalt des Militärs gebraucht. Die für den Konsum verfügbaren Geldmittel nahmen in bestimmten Bevölkerungskreisen aber trotz Zeichnung der Kriegsanleihen nicht im gleichen Maße ab. Die Preise stiegen. Während des Krieges kam es dann parallel zu wiederholten Aufforderungen, Kriegsanleihen zu zeichnen und zu zahlreichen lokalen Aufforderungen an die Bürger, zum Beispiel Kupfergegenstände oder Zinnteller bei Sammelstellen abzugeben (siehe Metallspende). Parallel zu Appellen an die Bevölkerung zur freiwilligen Rohstoffabgabe kam es besonders ab 1916 auf dem Land und bei Kleinbetrieben zu rigorosen Kontrollen, ob Nahrungsmittel- und Rohstoff-Lagerbestände korrekt angezeigt worden waren. Bei Verstößen gegen diese Pflichten kam es zu Anklagen und Beschlagnahmungen durch staatliche Zoll- und Steuerbeamte.
Um Unruhen zu vermeiden, wurden die Löhne der Arbeiter und Angestellten der Preisentwicklung angepasst, jene der unteren Einkommensklassen sogar überdurchschnittlich stark, wenn auch oft mit deutlicher Verspätung. Und um die Vermögenden nicht aufzubringen, wurden die Steuern nicht angemessen angehoben. Trotzdem entging bis zum Ende der Inflation nur ein kleiner Kreis von besonders Reichen der allgemeinen Verarmung aufgrund des Verfalls der Ersparnisse.
Im November 1918 überstiegen die Schulden des Reiches mit etwa 150 Milliarden Mark das Volkseinkommen des Jahres 1919 von geschätzten 142 Milliarden Mark. Weil es den Krieg verloren hatte, konnte das Deutsche Reich die Kriegslasten nicht auf andere Staaten abwälzen. Im Gegenteil, das Reich musste selbst Reparationen zahlen, was die Inflation noch verstärkte. Denn auch die Reparationen wurden über das Drucken zusätzlichen Papiergeldes bezahlt. Zwar waren die Reparationen in Fremdwährungen oder in Goldmark zu zahlen, die dafür nötigen Mittel besorgte sich der Staat aber über die (unkontrollierte) Vermehrung des eigenen Papiergeldes. Insbesondere Frankreich warf dem Deutschen Reich vor, den Ruin der eigenen Währung so bewusst zu provozieren, um zu demonstrieren, dass die Reparationszahlungspflichten nach dem Versailler Vertrag überzogen bzw. nicht leistbar seien.
Nach der Novemberrevolution 1918 verpflichtete der Friedensvertrag von Versailles 1919 Deutschland zu Reparationszahlungen an die Siegermächte (insbesondere an Frankreich). Deutsche Reparationsleistungen mussten in Goldmark, Devisen und Sachgütern geleistet werden.[5] Im Januar 1920 hatte die Mark gegenüber dem US-Dollar nur noch ein Zehntel ihres Wertes vom August 1914.
Auch die anderen kriegsbeteiligten Staaten hatten unter den Folgen des Weltkrieges zu leiden. In den Jahren 1921 und 1922 kam es zu einem weltweiten Konjunktureinbruch. Die deutsche Volkswirtschaft konnte sich in dieser Zeit erholen. Die entwerteten Löhne und Einkommen wirkten wie Lohndumping. Das deutsche Wirtschaftswachstum war stärker als in den Volkswirtschaften der Sieger.
Im Oktober 1921 wies die Mark noch ein Hundertstel ihres Wertes vom August 1914 auf, im Oktober 1922 nur mehr ein Tausendstel.
Medaille mit Preisen vom Februar 1923
Juli 1923 vor der Berliner Reichsbank, Geldtransport mit Taschen
Berliner Tageszeitung meldet, dass in New York ein Dollar eine Million Mark kostet, Juli 1923
Notgeld der Farbwerke Hoechst, 3 Mio. Mark, August 1923
Geldauslieferungsstelle (Sammelstelle) in der Berliner Reichsbank, Oktober 1923
BASF-Notgeld 500 Mio. Mark, September 1923
Überdruckte Banknote von Dezember 1922
Überdruckter Gutschein der Fa. Gebr. Körting 10 Mrd. Mark, ca. Oktober 1923
Erste Rentenmark-Ausgabe am 15. November 1923 in der Berliner Reichsbank
Weil die Reichsregierung nicht mehr in der Lage war, die Reparationen in voller Höhe zu bezahlen oder Ersatzleistungen in Form von Wirtschaftsgütern zu erbringen, kam es zur Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen. Die deutsche Regierung unter Reichskanzler Wilhelm Cuno rief zum „Ruhrkampf“, zum passiven Widerstand gegen die militärische Besetzung, auf. Den Streikenden wurden die Lohnfortzahlung durch das Deutsche Reich bzw. finanzielle Hilfen versprochen. Das Geld dafür musste die Regierung jedoch durch die Notenpresse erzeugen, wodurch die Geldvermehrung immer rascher wurde und die Inflation sich dramatisch beschleunigte. Damit begann jene Zeit der Hyperinflation, die noch Generationen von Deutschen als Beispiel für die Schrecken einer Inflation verfolgte. Immer schneller verfiel der Wert der Mark gegenüber dem US-Dollar, bis schließlich im November 1923 der Kurs für einen US-Dollar 4,2 Billionen Mark entsprach.
Die Hyperinflation führte zu einem teilweisen Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft und des Bankensystems. Zwei komplette Auflagen von 1000 Mark- und 5000 Mark-Banknoten konnten Anfang 1923 nicht mehr in Umlauf gebracht werden, sie mussten Ende 1923 mit „1 Milliarde“ und „500 Milliarden“-Aufdrucken verwendet werden. Der Aktienindex des Statistischen Reichsamtes stieg im Dezember 1923 im Monatsdurchschnitt auf einen Wert von 26,89 Billionen Punkte und der Goldpreis auf 86,81 Billionen Mark pro Feinunze. Die Arbeitslosigkeit stieg, die Reallöhne fielen ins Bodenlose und die KPD erhielt immer mehr Zulauf. Die staatstragenden Gewerkschaften waren inzwischen so ausgeblutet, dass sie von der Regierung finanziert werden mussten. Als Gustav Stresemann Reichskanzler wurde, brach er am 26. September den Ruhrkampf ab. Entscheidend war dabei die Furcht vor einem Umsturz. Die Behauptung des ehemaligen Reichskanzlers Cuno, das Deutsche Reich könne die Reparationen nicht mehr erbringen, wurde stillschweigend kassiert.
Jetzt waren die Bedingungen gegeben, eine Stabilisierung der Währung durchzuführen. Diese Stabilisierung forderten auch die Siegermächte als Voraussetzung für Verhandlungen über die Reparationszahlungen, die zum Dawes-Plan führten. Die wirtschaftlichen Verhältnisse konnten sich im Verlauf des Jahres 1924 stabilisieren – in ihrer Folge auch die politischen Verhältnisse.
Nachdem die Folgen der Hyperinflation neben wirtschaftlichen auch schwerwiegende politische Verwerfungen ausgelöst hatten, wurden von verschiedenen Seiten Vorschläge zur Währungsstabilisierung gemacht. Anders als Österreich, das durch eine internationale Anleihe (siehe Genfer Protokolle) 1922 die Einführung des Schillings erreicht hatte, war dem Deutschen Reich die Beschaffung von ausländischem Kapital wegen der angespannten außenpolitischen Lage unmöglich. Die Währungsstabilisierung musste daher auf rein binnenwirtschaftlicher Grundlage erfolgen. Dabei wurden drei wesentliche Konzepte in Fachkreisen diskutiert:[6]
Die Reichsregierung schlug vor, die vorhandene Währung mit Instrumenten der Steuer- und Kreditpolitik zu stabilisieren. Höhere Steuern und weitreichende Kreditsperren sollten das Wachstum der Geldmenge vermindern. Zudem sollten Maßnahmen der Devisenpolitik sowie die Indexierung („wertbeständige Rechnung“) bei der Steuerveranlagung eingeführt werden. Die Papiermark sollten erhalten bleiben, aber Schritt für Schritt wieder knapp und somit wertvoll gemacht werden.
Das Konzept einer Stabilisierung durch die Rückkehr zur Goldwährung wurde von Industriekreisen propagiert, die sich durch einen festen Wechselkurs im Rahmen des internationalen Goldstandards bessere Chancen im Export erhofften. Unterstützt wurden diese Pläne von Ökonomen wie dem damaligen Liberalen Hjalmar Schacht und dem Sozialdemokraten Rudolf Hilferding.
Eine neue Währung, deren Deckung durch die Belastung im Inland befindlicher Sachwerte erfolgen sollte, schlug der deutschnationale Finanzfachmann Karl Helfferich vor.
Dieser Plan, mit Adaptierungen des Reichsfinanzministers Hans Luther, wurde schließlich umgesetzt. Als Fernziel wurde jedoch weiterhin die Wiedereinführung der Goldwährung verfolgt.
Währungstechnisch wurde die Inflation am 15. November 1923 mit Einführung der Rentenmark (wertgleich mit der späteren Reichsmark) beendet. Die Rentenmark wurde von der Rentenbank ausgegeben, einem privatwirtschaftlich organisierten Institut. Träger der Bank waren Landwirtschaft, Industrie, Gewerbe und Handel, die 4 Prozent ihres Besitzes als Grundschuld verpfändeten. Sie hafteten also mit einem Teil ihres Vermögens für die neue Währung.
Der Wert einer Rentenmark wurde mit einer Billion Papiermark festgelegt. Er war damit identisch mit dem Wert der Goldmark, also der Mark vor Aufhebung der Goldbindung im August 1914. Auf Rentenmark lautende Geldscheine wurden ab 15. November 1923 nach und nach in Umlauf gebracht. Da die Rentenbank jedoch ein privates Institut war, war die Rentenmark kein gesetzliches Zahlungsmittel, sie musste aber überall akzeptiert werden und erfüllte diese Funktion damit de facto.
Alleiniges gesetzliches Zahlungsmittel blieb formal die Papiermark. Deren weitere Entwertung wurde dadurch gestoppt, dass die Reichsbank keine Anleihen des Staates mehr diskontierte, also die Staatsfinanzierung über die Notenpresse beendete. Dies war die entscheidende Maßnahme, um die Inflation zu stoppen. Die Einführung der Rentenmark war dagegen eher ein psychologisch wichtiger Vorgang, da diese auf einem realen Wert, den Schuldverschreibungen auf das Vermögen der Wirtschaft, basierte. Vertrauen entstand zudem dadurch, dass der Wert der Rentenmark genau dem der Goldmark vor dem Kriege entsprach, einer Währung, die stets als stabil galt.
Der Staat erhielt von der Rentenbank ein zinsloses Darlehen im Wert von 300 Millionen Rentenmark. Damit löste er die Schatzwechsel auf Papiermark ab, die bei der Reichsbank lagen, wodurch die Reichsbank Rentenmark erhielt und wodurch sie ihre Bilanz stärken konnte. Dennoch verfügte die Reichsbank noch bis Oktober 1924 neben Rentenmark über offizielle Papiermark-Bestände,[7] die sie im Februar 1924 in Form einer Serie von 5-, 10-, 20-, 50- und 100-Billionen-Mark-Scheinen in Umlauf brachte.
Die Geldscheine der Papiermark blieben noch bis Anfang 1925 als wertstabiles Notgeld (Kurs: 1 Billion Mark = 1 Rentenmark) in Umlauf, da die neue Rentenmark nur allmählich in Umlauf gesetzt werden konnte. So erhielten beispielsweise die Mitarbeiter der Farbwerke Hoechst noch bis Anfang 1925 ihre Löhne nur teilweise in neuen Rentenmark-Scheinen und den Rest in Notgeld-Scheinen.[8] Preise wurden jedoch im Allgemeinen in Rentenmark angegeben. Diese mussten bei Bezahlung mit Papiermark dann mit einer Billion multipliziert werden.
Die Notmünze mit dem höchsten Nominalwert aller Zeiten, das 1-Billion-Mark-Stück der Provinz Westfalen von 1923,[9] die durch die Hyperinflation zum geplanten Ausgabetermin bereits entwertet war, wurde erst nach dem Ende der Inflation und Stabilisierung der Währung 1924 als Erinnerungsstück zum Verkauf angeboten.
Durch die inflationäre Geldentwertung wurden die ökonomischen und sozialen Lasten des verlorenen Krieges von der Masse der abhängig Beschäftigten und den reinen Geldvermögensbesitzern getragen. Erst 1928 erreichten die Reallöhne im Durchschnitt wieder das Niveau des Jahres 1913 (nach den Zahlen der amtlichen Statistik). Ein wesentlicher Teil der Mittelschichten – gewohnt, ihr Leben ohne Hilfe des Staates zu gestalten – fand sich in Armut wieder. Ihre finanziellen Rücklagen schmolzen aufgrund der Inflation beinahe vollständig dahin. Profiteure der Inflation waren dagegen Sachwertbesitzer, also beispielsweise Industrielle und Landwirte, aber auch alle, die sich verschuldet hatten, da ihre Schulden fast vollständig weginflationiert worden waren.
Die folgende Tabelle skizziert den Verfall des Binnen- und des Außenwertes der deutschen Währung:
Jeweilige Verzehnfachung des Dollarkurses seit Kriegsausbruch
Paul van Buitenen (* 28. Mai 1957 in Breda) ist ein ehemaliger Beamter der Europäischen Kommission, der aus den Niederlanden stammt. Er wurde bekannt als Whistleblower, als er sich ab 1998 öffentlich gegen das betrügerische Verhalten einiger Mitglieder der Kommission Santer wandte, die daraufhin insgesamt zurücktreten musste. Van Buitenen wurde beurlaubt und danach in eine „ungefährliche“ Funktion versetzt. Er schrieb ein Buch über diesen Fall mit dem Titel Strijd voor Europa (deutscher Titel Unbestechlich für Europa), das 2000 erschien. Als Gründer der Partei Europa Transparant war er von 2004 bis 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments.
Von 1975 bis 1979 studierte Paul van Buitenen an der Technischen Hochschule Eindhoven Werkzeugbau, verließ aber die Hochschule ohne Diplom. Seinen Militärdienst in den Niederlanden absolvierte van Buitenen von 1979 bis 1980. Anschließend machte er 1980 ein Fachdiplom für Buchhaltung. Am Niederländischen Institut für Wirtschaftsprüfung (NIVRA) belegte er 1983 eine fachliche Ausbildung.
Die berufliche Arbeit begann von 1980 bis 1985 als Wirtschaftsprüfungsassistent. Von 1985 bis 1986 war er Leiter der Geschäftsführung eines Produktionsbetriebs. Von 1986 bis 1990 war er als leitender Mitarbeiter der Haushaltsabteilung an einer Universität angestellt. Im Jahr 1990 fand Paul van Buitenen als EU-Beamter eine Anstellung bei der Europäischen Kommission in Brüssel, die er bis 2002 ausüben konnte. Ab 2002 war er vorübergehend für die Dauer eines Jahres als Berater für die Finanzverwaltung bei der Polizei tätig. Ab 2003 übte er – wiederum für ein Jahr – als Beamter in Brüssel bei der Europäischen Kommission eine verantwortliche Tätigkeit aus.
Van Buitenen arbeitete zuerst beim DG 22, dem Direktorat, das für die Ausführung von Programmen (z. B. für Berufsausbildungen) zuständig ist. Am 1. Januar 1998 wurde er auf eigenen Wunsch zum DG 20 versetzt, dem finanziellen Kontrolldienst für die anderen Direktorate. Als Kontrollbeamter hatte er zusammen mit Kollegen Beweismaterial gesammelt, vor allem über das Leonardo-da-Vinci-BAT-Programm und auch ECHO. Dieses Beweismaterial beruhte teilweise auf anonymen Zeugenaussagen. Das Material deutete auf direkte oder indirekte Interessenverstrickung bei der Zuweisung von Da-Vinci-Geldern an Privatfirmen, die Teile des Programms auf Vertragsbasis ausführen sollten. Es waren beweisbar Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe der Gelder aufgetreten.
Er berichtete seine Untersuchungsergebnisse an den UCLAF, den Antikorruptionsdienst der Europäischen Kommission, fand aber, dass dieser viel zu wenig mit seinem Bericht unternahm. Allerdings begann sein eigener Dienst, DG 20, eine Untersuchung bei seinem ehemaligen Dienst, DG 22. Der Evaluierungsbericht bestätigte, dass Van Buitenen recht hatte. Bei den weiteren Untersuchungen konzentrierte man sich aber ausschließlich auf eines der zwielichtigen Da-Vinci-Projekte, der Dienst selbst wurde weiter nicht durchleuchtet. Van Buitenen durfte keine Kontrollaufträge mehr ausführen und keine Kollegenbefragungen mehr durchführen. Er schrieb eine Notiz über den Fortgang der Untersuchungen bei den betroffenen Diensten, Kabinetten und Kommissionen und drohte mit der Veröffentlichung beim Europäischen Parlament. Diesen Bericht schickte er an seine Vorgesetzten, einschließlich des Direktors von UCLAF.
Am 17. Juli 1998 erschien der Untersuchungsbericht von DG 20, worin die Untersuchungsergebnisse von Van Buitenen bestätigt werden. Bis zum 1. September war noch nichts Merkliches damit geschehen. Van Buitenen drohte erneut schriftlich mit der Veröffentlichung beim Parlament. Am 28. Oktober wiederholte er seine Drohung, was ihm aber von seinem Generaldirektor untersagt wurde. Auch durfte er nicht mehr den unabhängigen Europäischen Rechnungshof kontaktieren. Ein anonymer Brief war einige Tage davor an alle Mitglieder des Parlaments verschickt worden, nach Aussage von Van Buitenen ohne sein Mitwissen.
Am 9. Dezember 1998, kurz bevor das Europäische Parlament die Fortsetzung der Projekte beschließen sollte, bei denen Van Buitenen den Betrug festgestellt hatte, sah er es als seine Pflicht an, das Parlament aufzuklären, bevor die Abstimmung über den Fall stattfand.
Gegen die Befehle seiner Vorgesetzten schickte er 75 Exemplare eines dicken und gut dokumentierten Berichts an den Vorsitzenden der Grünen-Fraktion mit der Bitte, diese an die Budget-Kontroll-Kommission des Parlaments weiterzuleiten. Das Dossier handelte von der nach Meinung Van Buitenens inkompetenten Art und Weise, mit der die Europäische Kommission den Betrug bei verschiedenen Ausgabedossiers behandelte, und von Unregelmäßigkeiten innerhalb der Kommission. In diesem Dossier kam speziell die Kommissarin Édith Cresson sehr schlecht weg.
Diese Tat hatte ernste berufliche Folgen. Er wurde vom Computersystem ausgeschlossen und bekam die höchste Sanktion: Beurlaubung. Die Begründung lautete, er hätte durch seine Äußerungen dem Ansehen des Amts geschadet und er hätte Berufsgeheimnisse verletzt. Sein Lohn wurde halbiert. Es wurde eine dienstrechtliche Untersuchung über sein Tun und Lassen eingeleitet.
Zu Beginn hatte sein Bericht nur etwas Aufregung im Parlament zur Folge. Die Entlastung für die Kommission für Ausbildung wurde für 1996 verweigert. Die Kommission versprach Besserung bei der Behandlung von Korruption. Sie schlug Anfang Dezember vor, den UCLAF durch OLAF zu ersetzen, der unabhängiger arbeiten sollte.
Erst nach dem 4. Januar 1999, als Van Buitenen seine Beurlaubung und die Halbierung seines Lohns öffentlich machte, stürzte sich die Presse auf das Thema. Die Kommissare Édith Cresson und Manuel Marín gelangten ins Kreuzfeuer der Kritik. Aus dem Europäischen Parlament kamen Forderungen nach dem Rücktritt der beiden Kommissare. Es wurde ein Misstrauensantrag gestellt und einige forderten die Absetzung der beiden Kommissare.
Die Kommission beschuldigte Van Buitenen, er verbreite Lügen und sei inkompetent. Die Betrugsvorwürfe würden schon lange untersucht, zum Teil strafrechtlich. Am 15. März 1999 überbrachte ein Komitee von Sachverständigen dem Parlament einen vernichtenden Bericht, worin sie Van Buitenens Untersuchungen voll und ganz bestätigten und auch die Notwendigkeit seines Berichts an das Parlament. Am Abend nach der Veröffentlichung des Rapports des Komitees trat die Kommission geschlossen zurück.
Ein Vorschlag, Informanten gesetzlich zu schützen, wurde durch das Parlament allerdings abgelehnt. Nach dem Ende seiner Beurlaubung wurde Van Buitenen vom finanziellen Kontrolldienst zum Gebäudedienst versetzt. Die dienstrechtliche Untersuchung wurde aber nicht gestoppt und auch in seiner neuen Arbeit erfuhr er viele Einschränkungen.
Die Aufdeckungen Paul van Buitenens führten unter anderem zur Gründung des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) im Juni 1999, das Korruption und anderen Unregelmäßigkeiten innerhalb der EU-Behörden nachgehen soll. Anders als zuvor UCLAF wurde OLAF für seine Untersuchungen mit Unabhängigkeit ausgestattet, um Einflussnahmen zu verhindern.
Auch nach der Krise versuchte Van Buitenen mögliche Missstände aufzudecken und anzugehen. Er sammelte mit Hilfe von Kollegen weiteres Material für ein zweites Dossier mit neuen Fällen, das er 2001 der neuen Europäischen Kommission überreichte. Durch das Eintreten einiger Parlamentarier wurde er für diese Aufgabe zwei Monate freigestellt.
2000 nahm das Europäische Parlament eine Regelung für Whistleblower an. Darin wurde geregelt, dass Whistleblower ihre Untersuchungsergebnisse an den Vorsitzenden einer der europäischen Einrichtungen weitergeben dürfen. Im Juni 2006 diskutierte der Ausschuss für Haushaltskontrolle im Europäischen Parlament einen Expertenbericht, in dem eine Bilanz der neuen Whistleblower-Regelung gezogen wurde.
Im niederländischen Fernsehen schilderte Van Buitenen am 13. Juni 2004, dass er als Folge der Krise ein Aussätziger geworden sei und dass sein Computer durchsucht worden war. Auch für seine Familie sei die emotionale Belastung gewaltig gewesen. Er wäre nie zum Whistleblower geworden, wenn er die Folgen vorher gekannt hätte.
Am 8. April 2004 kündigte Paul van Buitenen die Gründung einer neuen politischen Partei namens Europa Transparant an. Damit wolle er die Missstände in den europäischen Einrichtungen besser bekämpfen. Bei den niederländischen Wahlen zum Europäischen Parlament am 10. Juni 2004 gewann die Partei auf Anhieb zwei Sitze, nach einer Wahlkampagne, die nicht mehr als viertausend Euro gekostet hatte. Zusammen mit seiner Parteikollegin Els de Groen, die über Korruptionsskandale in Osteuropa schrieb, schloss er sich der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz an. Van Buitenen gehörte bis zum Ende der Legislaturperiode 2009 dem Haushaltskontrollausschuss des Europäischen Parlaments an. Zur Europawahl 2009 trat Europa Transparent nicht mehr an.
Zusammen mit dem Österreicher Hans Peter Martin (Liste Dr. Martin) und dem Briten Ashley Mote (einem ehemaligen Mitglied der UK Independence Party) initiierte van Buitenen 2005 die Platform for Transparency (PfT).
Paul van Buitenens Familie war römisch-katholisch, in späteren Lebensjahren trat er zur protestantischen Konfession über und schloss sich zuerst einer anglikanischen Kirche in Brüssel an. Danach trat er einer charismatischen Kirche in Breda bei.